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Das Haus der Gesundheit - Ein Traum
GLOSSE von Kurt Wanke

Träume, das ist die Realität gesehen durch die Brille des Unterbewußtseins; manchmal sind sie gar so realistisch, daß sie keiner Deutung bedürfen. Wahrscheinlich noch aufgewühlt von Horst Seehofers unfreiwillig-komischen Auslassungen in den Abendnachrichten zum Thema Gesundheitsreform, machte sich mein inneres Auge offenbar nachts einen Spaß daraus, sich die weitere Zuspitzung auszumalen und auf hohle Stellen abzuklopfen.

Obwohl seit Jahren leidenschaftlicher Rollstuhlfahrer erträumte ich mir doch gleich, dass ich plötzlich wieder laufen kann. Auf einer herrlich gelegenen Anhöhe mit weitem Blick über diesen unseren gesundheitspolitischen Freizeitpark erblickte ich aus der Vogelperspektive ein weitläufiges schloßähnliches Bauwerk. Am Berghang dahinter ein monumentales Schriftband, wahrscheinlich von Bonner Traumtänzern gesponsert: HAUS DER GESUNDHEIT. Ich fühlte mich sogleich in das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten versetzt, genauer gesagt, in die Traumfabrik HOLLYWOOD. Aber das war nur der Auftakt, denn Träume sind bekanntlich (noch) mehrwertsteuerfrei und auch nicht vom Wohlwollen des verordnenden Arztes oder gar des Medizinischen Dienstes abhängig.

HAUS DER GESUNDHEIT! Was würde mich dort wohl alles erwarten? Gleich im Erdgeschoß eine Apotheke mit gutsortierter Homöopathie und kostenloser(!) Abgabe von grünem Libanesen. Säuferlebern, so der unheimlich nette Pillendreher, Säuferlebern kann sich unser Gesundheitswesen ganz einfach nicht mehr leisten, und außerdem möchten wir unserer jüngeren Kundschaft auch etwas anderes anbieten, als immer nur Herzelixier, das sie ja klammheimlich doch selber saufen, statt es ihrer Oma zu schenken. Außerdem sind Beschaffungsfahrten nach Amsterdam teuer, unmoralisch, umweltverpestend, verboten, und verdaddeln unnötigerweise unsere harten D-Märker im feindlichen Ausland.

"Dann dealen wir doch lieber gleich selber ", fügte Herr Offizin noch in waterkantigem Deutsch hinzu, doch da hatte ich schon ein Eckchen weitergeträumt und fand mich in einem Sanitätshaus wieder, das gleich nebenan lag, sogar mit dem Rollstuhl stufenlos erreichbar, aber das war meinem träumerischen Astralleib eh stern & schnuppe.

Zur Linken erblickte ich die altbekannten Überbleibsel eines altbekannten Gummistrumpf-Emperiums, während rechts die Zukunft zu ahnen war. Sogar eine mit modernsten Werkzeugen bestückte und mit wirklichen Fachleuten bemannte Werkstatt, von der die meisten Rollstuhlfahrer leider nur träumen können; ich genoß diesen Traum ungemein, wohl wissend, dass er weltfremd war.

Schon tat sich eine neue Perspektive auf; eine ganze Ärzte-Etage! Gynäkologen, Andrologen, Dermatologen, Urologen, Diabetologen, Laryngologen, Rhinologen, dazwischen auch ein "Praktischer Arzt", der allerdings nur für nächtliche Hausbesuche zuständig war, sowie zwei Ophtalmologen, von denen einer auf das linke, der andere auf das rechte Auge spezialisiert war. Die restlichen drei Viertel des Stockwerks gehörten einem über die Grenzen des Inkontinents hinaus bekannten Orthopäden, der seinen ausgedehnten Beritt nur mit Hilfe eines modifizierten GoIf-Carts zu beackern imstande war. Sein Vehikel interessierte mich ganz besonders, da es sich wohl um einen trendweisenden Prototyps handelte. Neben dem etwas erweiterten Abteil für den Golfbag und sonstige unverzichtbare standesgemäße Utensilien war ein mehrgeschossiges Magazin für intra-artikuläre Spritzen installiert, aus denen sich der Oberpiekser nach Herzenslust bedienen und seine auf etwa zwanzig Behandlungskabinen verstreuten Opfer nach Herzenslust reihenweise abspritzen konnte.

Besonders interessant übrigens der Antrieb seines Gefährts! Kein Tank war eingebaut, kein Motor verpestete die Luft; alles was ich entdecken konnte, war ein unscheinbarer Schlitz mit der Aufschrift SCHEINE und ein etwas versteckt angeordneter ähnlicher Schlitz ohne jede Aufschrift, der offenbar nur zum Einwurf von Papiergeld vorgesehen war, das jeden Abend pünktlich durch eine bundesdeutsche Fachfirma umweltschonend in Luxemburg oder auf den Bahamas entsorgt wird. Nur ein Traum? Fast wäre ich erwacht, so nah wußte sich mein Unterbewußtsein an der Realität! Noch berauscht von diesem Perpetuum mobile der Geldschöpfung fand ich ein Stockwerk höher die nach Räucherstäbchen duftenden Behandlungshöhlen der Alternativ-Mediziner. Ravi Shankar vom Endlos-Band, ein geweihtes Bambuspflöckchen im linken Ohrläppchen, beschwörend mit Akupunktur- und Akupressurstäbchen wedelnd, sah ich die Schamanen der fernöstlichen Medizin, die sich von konventionellen Heilkundigen auf den ersten Blick nur durch ihren diskreten Umgang mit der Mesimme unterscheiden. So erübrigen sich Einwurfschlitze für Scheine, denn Fingerfertigkeit, auch im Umgang mit eben diesen Scheinchen, ist in diesen Kreisen state of the art. Kein Finanzamt wird sich je gezwungen sehen, zur Bearbeitung derartiger Steuerfälle teures zusätzliches Personal einzusetzen; und Herr Jagoda zählt die Häupter seiner Lieben sicher ebenso stolz wie söllmals der Papst seine von Stalin angezweifelten Divisionen.

Auf der ärmeren Seite dieser Etage sah ich etliche Lymphomanen, sadistische Krankengymnastinnen, die ihren Opfern trotz drohender Vorenthaltung aller Anschluß-Behandlungs-Scheine einen Schwiegermutterknoten in die Ischiokruralen flochten, sowie verzweifelt stammelnde Logopäden, die mit ihren Patienten das Klagelied über die miserable Vergütung einübten. Medizinische Bademeister gab es im Haus der Gesundheit sicher auch, aber die hatten sich wohl in das Übungsschwimmbecken im Keller zurückgezogen, in dessen Vorfeld eine bewährte Zuchtanlage für den Fußpilz angesiedelt war. Die Zusammenarbeit mit den oben erwähnten Dermatologen hat sich also ganz offenbar bewährt…

Wie jeder Mensch am vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Ende seines Erdendaseins, stellte ich mir die Gretchenfrage: und das soll alles gewesen sein? Mit Neffen! Schon vorher hatte ich mich über das dissonante Geschrei aus dem darüberliegenden Geschoß gewundert. Und prompt fand ich eine ganze Etage mit Vertretern eines Berufsstandes, den man im Mittelalter als Zahnreisser gebrandmarkt und bei Mißerfolgen ihrer Bemühungen ersäuft oder zumindest öffentlich an den Pranger gestellt hatte.

Au Backe, ich spreche von den Zahnklempnern und artverwandten Berufen. Solche Bloßstellungen wären heute dank der überaus professionellen Standesvertretung natürlich undenkbar, und wenn heute schlecht sitzende "Dritte" für Ärger sorgen, dann allenfalls in TV-Talkshows, wo verbitterte Senioren ihre Beisserchen vor die Makro-Linse der Kamera legen und dann zahnlosen Protest vorbringen.

Dennoch wunderte mich das herzerweichende Jammern, das von dieser Etage ausging. Nein, es waren nicht die Patienten, obwohl die genug Grund zum Jammern gehabt hätten, sondern es waren die Kieferorthopäden, die lautstark die drohende Beschneidung ihres Besitzstandes beweinten. Anschwellender Bocksgesang war vor allem immer dann zu vernehmen, wenn das eigene, natürlich steuerbegünstigte Einkommen nicht mehr mindestens zehnmal so hoch lag, wie etwa das von Neurochirurgen. Warum haben die auch nichts Rechtes gelernt und beizeiten eine schlagkräftige Lobby auf Bonn angesetzt?

Schon dachte ich ans Aufwachen, denn selbst ein schmerzgewohnter Schwerbehinderter ist nicht unbegrenzt leidensfähig. Aber die Neugier bewog mich, im Traum auch noch die darüberliegenden Etagen zu erkunden. Sesam öffne dich! Und schon war ich auf der vermeintlich nun doch höchsten Etage gelandet. Ich war überwältigt von edelgestählten Verblendungen, tropischen Verholzungen, marmorierten Fußböden, prötzerten Schreibtischen und bequemen Sitzlandschaften, deren edelgegerbte Bezüge auf keine Kuhhaut mehr gingen; kurzum, ich war bei den armen Kassen angelangt. Arm weil sie selbst sich dafür hielten, und sich dies gegenseitig auf Heller und Pfennig vorrechneten.

Genau in der Mitte verlief ein Wall aus künstlich überspitzten Palisaden, die sämtlich mit dem Signet RSA gekennzeichnet waren. Es handelt sich zwar um Symbole der Apartheid, jedoch nicht aus Südafrika. Der Risiko-Struktur-Ausgleich war gemeint, doch bei näherem Hinsehen wurde mir schnell klar, daß beide Seiten auch nur mit Wasser kochten und nach Adam Riese rechneten; 2 x 2 = 3,9995 auf der einen, 4,0005 auf der anderen Seite.

Nach zähen Verhandlungen hinter vorsorglich verschlossenen Türen kam man dann überein, die Abgleichung der marginalen Rechnungsdifferenzen auf die übernächste Legislaturperiode zu verschieben, zum Ausgleich dafür aber die Vorstandsbezüge sofort kräftig zu erhöhen, und das dadurch entstehende Defizit durch eigne pauschalierte Leistungskürzung wieder wettzumachen.

Angewidert wandte ich mich ab und wollte nun endgültig wach werden, da sah ich hinter einem hohen Bauzaun noch einen geheimen Anbau, der schon recht weit fortgeschritten war; und das Volumen und die Pracht des bisher geschilderten Palastes weit in den Schatten stellte. Es war der Anbau für den Medizynischen Dienst. Hier würde Platz sein für ein Überministerium, ein Refugium der Wissenden und Besserwissenden, der Ein- und Abstufer, gegen deren vermeintlich unfehlbares Urteil eine medizinische Berufung nur beim seligen Hippokrates und eine sozialrechtliche allenfalls vor dem Jüngsten Gericht möglich sein würde. Grandios!

Schweißgebadet wachte ich auf und sah plötzlich die Dinge mit anderen Augen; irgendwie realistischer…

Veröffentlicht in: MTD
Medizintechnischer Dialog
Heft 3/97