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Mit Einheitsrollstüllen oder individuell angepasst

Alle Menschen sind gleich…
© Dipl.-Kfm. Kurt R. B. Wanke, Würzburg

Das gilt auch für Behinderte!
Ab morgen Schuhgröße 42 für alle!

Lange vor der Zeit des Klassischen Griechenlands lebte der Sage nach dereinst an der Straße zwischen Athen und Korinth ein schrecklicher Räuber, der Reisenden auflauerte, sie fing und dann mit sadistischen Methoden ins Jenseits beförderte. Sein Werkzeug waren zwei Betten, in deren eines je nach Körpergröße er seine Opfer legte und sie dann auf "Normalmaß" brachte.

War der Unglückliche groß gewachsen, so legte Prokrustes ihn in das kürzere der Betten und hieb ihm die überstehenden Gliedmaßen ab. Kürzer geratene Opfer dagegen legte er in das längere Bett und streckte sie dann so nachhaltig, bis sie hineinpaßten. Die Sterblichkeitsrate beider Methoden soll bei sagenhaften 100% gelegen haben, was ganz im Sinne des Erfinders und bei der rüden Vorgehensweise ja auch kaum anders zu erwarten war. Aber Prokrustes arbeitete immerhin schon mit zwei unterschiedlichen Größen…

Heute führt eine vielspurige Autobahn unmittelbar am damaligen Tatort vorbei, aber kaum einer der Reisenden kennt noch die Untaten des ruchlosen Prokrustes, und schon gar nicht den genauen Ort des Geschehens. Jedem halbwegs Gebildeten ist aber heute noch der Begriff "Prokrustesbett" geläufig, zumal dieses in etwas abgewandelter Erscheinungsform im Bereich der Behindertenhilfsmittel wieder salonfähig zu werden droht.

Um den Zusammenhang zu erhellen, muß die "Philosophie" eines tauglichen Hilfsmittels aufgezeigt werden. Ein Hilfsmittel hat die Aufgabe, eine durch Krankheit, Unfall oder einfach hohes Alter verlustig gegangene körperliche Funktion so weit wie möglich auszugleichen. Eine Krücke ersetzt ein fehlendes Bein, eine Brille stellt die Sehschärfe wieder her, ein Hörapparat das Hörvermögen usw.

Dabei sollte selbstverständlich sein, daß das Hilfsmittel so exakt wie nur machbar an die jeweilige Behinderung anzupassen ist, um wirklich Hilfe zu bringen. Eine Brille mit + 3 Dioptrien sieht für den Laien aus wie eine mit - 3 Dioptrien, doch wirklich helfen kann sie nur, wenn neben der Dioptrienzahl noch eine ganze Reihe weiterer Parameter berücksichtigt werden. Das Gestell, das für den ersten Eindruck sorgt, ist hingegen fast nebensächlich und kann allenfalls die Akzeptanz des Hilfsmittels verbessern helfen.

Doch geht es bei verordnungsfähigen Hilfsmitteln nicht in erster Linie um ästhetische Aspekte, sondern um die individuelle Anpassung an die Erfordernisse der jeweils vorliegenden Behinderung. Kein Kostenträger käme auf die absurde Idee, allen Schwachsichtigen Einheitsbrillen zu verpassen, nur weil die dank größerer Stückzahl noch etwas billiger einzukaufen wären. In anderen Bereichen jedoch scheint die Idee standardisierter Hilfsmittel vermehrt durch die Planungen der Kostenträger zu geistern.

Ein gutes Beispiel für diesen Irrweg sind die Billig-Rollstühle - vorwiegend fernöstlicher Provenienz - unter Insidern besser als Kassen-Chopper bekannt. All diesen Standardtypen gemeinsam ist der sklavische Nachbau aller Details, die für die allerersten Faltrollstühle zwar akzeptabel waren, heute aber mit vielen Wenn und Aber gerade einmal zur Basisversorgung taugen. Ausgangs des 20. Jahrhunderts solche Konstruktionen einzusetzen ist, als baute man unbeirrt das Ford-Modell "T" aus den 20er Jahren weiter und ignorierte alle seitherigen Weiterentwicklungen.

Doch der Vergleich ist selbst "körperbehindert", denn er hinkt! Wenn sich jemand aus gutem Grund weigert, mit diesem Modell "T" zu fahren, so soll er, bitte sehr, eben zu Fuß gehen. Genau das aber kann der Rollstuhlfahrer nicht, sondern er ist seinem fahrbaren Untersatz auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und im Normalfall nicht nur für ein paar Tage oder Wochen, etwa nach einer Bein- oder Hüftverletzung, sondern eben auf Dauer.

Für jeden Ortswechsel, und seien es nur die wenigen Zentimeter zum Zurechtrücken am Schreib- oder Eßtisch, für jede noch so kleine Positionskorrektur muß der Rollstuhl samt Fahrer bewegt werden, und das meistens allein mit Armkraft. Der Rollstuhl wird so quasi zu einem dauernden Bestandteil des Körpers und wird nur noch zum Schlafen "abgekoppelt". Im Laufe der normalen Lebensdauer eines Rollstuhls kommen da leicht einige Millionen Fahr- oder Bremsimpulse zusammen, die willentlich vom Rollstuhlfahrer ausgeübt werden müssen, um den Funktionsausfall der Beine zu kompensieren. Allein schon die fast astronomische Zahl der Bewegungsimpulse rechtfertigt die intensive Beschäftigung mit dem eingesetzten Hilfsmittel, seiner optimalen biomechanischen Funktionstüchtigkeit und seiner individuellen Anpaßbarkeit.

Seit der Einführung der allerersten Faltrollstühle nach dem Zweiten Weltkrieg ist ja doch eine Menge Feinarbeit zur Weiterentwicklung geleistet worden, nicht zuletzt hier bei uns. In deutscher Gründlichkeit wurde sicher vieles auf die Spitze getrieben, und manches Detail geriet dabei möglicherweise in die Nähe der Spielerei oder der Unbezahlbarkeit. Einige Grundforderungen aber müssen heute als unverzichtbar anerkannt werden, z.B. die höchstmögliche Wendigkeit und Gewichtsreduzierung, natürlich ohne Verzicht auf Haltbarkeit und Servicefreundlichkeit bei allfälligen Reparaturen.

Genau so wichtig ist auch die Anpaßbarkeit an den Körperbau des Benutzers, an seine verbliebene Leistungsfähigkeit, und an den vorgesehenen Einsatzzweck. Die Auswahl mehrerer Sitzbreiten auch bei Billigst-Rollstühlen ist noch lange nicht gleichzusetzen mit optimaler Anpaßbarkeit. Der Traum vom in Großserie produzierten Einheitsrollstuhl ist aus dieser Sicht genau so utopisch, wie es die Forderung nach Einheitsschuhen wäre? Schuhgröße 42 für alle?

Behinderte im Rollstuhl sind dick! Oder dünn wie Twiggy… Sie sind kleinwüchsig wie Oskar Matzerath, der Graßsche Blechtrommler! Oder lang wie ein Massai-Krieger… Sie sind fit und wendig wie ein Rollstuhl-Basketballer! Oder eben Kandidaten für einen E-Stuhl… Sie sind alt und gebrechlich. Oder jung und unternehmungslustig… Oder sie sind Menschen wie Du (und ich); Du, der Du heute noch prima laufen kannst und morgen schon beim Joggen die Wirbelsäule verknacksen wirst, und plötzlich selbst einen Rollstuhl brauchst. Oder wie ich, der ich schon "Rolli" fahre…

Doch zurück zu unserem zweifelhaften Helden Prokrustes; selbst der hatte damals schon zwei Modelle zur Auswahl. Hätte er eine "Hilfsmittelversorgung" bei einem Kostenträger beantragt und wäre dabei an einen sparwütigen Sachbearbeiter geraten, hätte er womöglich nur ein Standard-Feldbett mit 175 cm Liegefläche und schriftlicher Rückgabeverpflichtung bewilligt bekommen.

Die meisten verantwortungsbewußten Kostenträger werden jetzt empört aufheulen und glaubhaft beweisen können, daß dies nur eine böswillig ausgeheckte Parabel ist. Nun ja, zum Glück sind die meisten Kassen durchaus bereit, bei plausibler Begründung eine individuelle und sachgerechte Ausstattung mit den erforderlichen Hilfsmitteln zu genehmigen. Was aber zu denken gibt, ist die leider wachsende Zahl der Kostenträger, die sich auf rein kommerzielle Aspekte zurückziehen und im Regelfall nur noch eine Minimalversorgung genehmigen, egal wie unzumutbar das für einen Betroffenen letzlich sein mag.

Leider spielen da auch die zugezogenen Gutachter des Medizinischen Dienstes oft eine mehr als fragwürdige Rolle. Wenngleich die meisten verantwortungsvoll und abgewogen urteilen, machen sich andere - aus welchen Gründen auch immer zu willfährigen Gehilfen der Leistungsverweigerung.

Letztmalig zurück zur Modellvielfalt des Prokrustes und deren Umsetzung in die heutige Zeit. Gerade wenn es um Hilfsmittel mit so vielen individuellen Parametern wie Rollstühle geht, muß die Tendenz zum Einheitsmodell die angemessene Versorgung des Behinderten zwangsläufig erschweren, in vielen Fällen sogar unmöglich machen. Andererseits sollte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und auch für die Geriatrieversorgung plötzlich Aktiv-Rollstühle aus Titan fordern. Der Trend geht aber leider ganz deutlich in die andere Richtung, und dem muß rechtzeitig Einhalt geboten werden, bevor die Dämme brechen.

Ein ganz anderer Aspekt dürfte aber künftig die Diskussion beleben: Wem ist eigentlich aus gesamtvolkswirtschaftlicher Sicht damit gedient, funktions- und qualitätsmäßig auf Dritte-Welt-Niveau reduzierte Hilfsmittel zu Dumpingpreisen aus den "Tigerstaaten" Südostasiens zu importieren, während gleichzeitig bei uns geeignete Fertigungskapazität brachliegt und hochqualifizierte Ingenieure und Arbeiter stempeln gehen müssen?

Es hat - weiß Gott - nichts mit Protektionismus oder gar Chauvinismus zu tun, wenn ich an diesen Aspekt erinnere. Die Ideen- und Innovationsfähigkeit unserer deutschen Wirtschaft und auch die unserer Nachbarländer wird über kurz oder lang in Resignation umschlagen, wenn wie im Märchen überall schon ein schlitzäugiger Igel sitzt, der die im Westen konzipierten Produkte unter Ausbeutung des dortigen Proletariats in Sweatshops und unter bewußter Vernachlässigung weltweiter Umweltprobleme nachbaut, und unsere einheimische Industrie mit Dumpingpreisen zu Tode garottiert.

Und Kostenträger, die da blindlings mitspielen, schaden nicht nur den wohlverstandenen Interessen ihrer Versicherten, sondern der Solidargemeinschaft unseres Volkes.

Veröffentlicht in:

Leben und Weg