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Warten auf den Rettungsdienst
Orts- und Ersatzkassen machen Stimmung gegen die erfolgreichen Betriebskrankenkassen. Sie versuchen damit, eigene Schwächen zu überdecken

Von Christinn Baulig und Anton Notz, Hamburg, und Cordula Tutt, Berlin

Eckart Fiedler versucht es mit der Angstmasche: Unverhohlen droht der Chef der Barmer Ersatzkasse der grünen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer, ein Anstieg der Beitragssätze von heute 13,6 Prozent auf mindestens 22 Prozent in den nächsten 30 Jahren sei durchaus realistisch – wenn die Betriebskrankenkassen (BKK) nicht stärker finanziell unter die Arme greifen. Die privatwirtschaftlich organisierten Kassen sind dem Barmer-Chef ein Dorn im Auge. Sie machten mit ihren günstigeren Beiträgen „Jagd auf Gesunde", so sein Vorwurf. Der Verband der Ersatzkassen hatte zuvor bereits für alle Kassen einen Mindestbetrag von 12,7 Prozent vorgeschlagen – ein Satz, der über dem der meisten BKKs liegt.

Mit ihren Schreckensszenarien machen die Vorsteher der Ersatz- und Ortskrankenkassen seit zwei Wochen Stimmung gegen die ungeliebte Konkurrenz. Sie wollen nicht länger akzeptieren, dass Versicherte scharenweise zu den meist billigeren BKKs abwandern.

Verkorkstes Gesundheitssystem

Die Orts- und Ersatzkassen stecken in der tiefsten Krise ihres Bestehens. Eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens mit all seinen Fehlanreizen und Ineffizienzen lässt seit Jahren auf sich warten. Doch viele der Probleme, mit denen die Kassen derzeit kämpfen, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Die Attacken gegen die Betriebskassen überdecken daher vor allem gravierende Managementfehler in den eigenen Organisationen. Nach wie vor wird dort knappes Geld verschleudert.

Seit es den Versicherten 1996 freigestellt wurde, die Kasse zu wählen, haben 1,2 Millionen Mitglieder ihre angestammte Kasse verlassen. Die AOKs sind die größten Verlierer: Allein 1999 wechselten 300 000 Mitglieder in günstigere Ersatz- oder Betriebskrankenkassen. Das vergangene Jahr schlossen die AOKs mit einem Verlust von 412 Mio. DM ab.

Die Folgen sind besonders im Osten zu spüren: Die AOKs in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind faktisch pleite. Sie benötigen 2000 eine Finanzspritze von 1,3 Mrd. DM. Das Defizit müssen besser gestellte AOKs sowie Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen ausgleichen.

Der Dortmunder Gesundheitsökonom Walter Krämer sagt bereits das Ende der gesetzlichen Kassen in ihrer heutigen Form voraus: „Der Leidensdruck wird derart wachsen, dass das System nicht mehr durchzuhalten ist."

Daran ändert auch der so genannte Risikostrukturausgleich nichts. Wer überwiegend „gute Risiken", also junge Beitragszahler, die selten krank sind, in der Kartei führt, muss an Kassen mit einem hohen Rentner-Anteil Einnahmen abführen. 7 Mrd. DM fließen dieses Jahr voraussichtlich in die Umverteilungsmaschinerie. Gesundheitsministerin Fischer hat zwar angekündigt, den Strukturausgleich bis Sommer 2001 zu überarbeiten, doch manche Ortskrankenkasse fürchtet, bis dahin nicht über die Runden zu kommen.

Gesundheitsexperten halten den Strukturausgleich für den falschen Weg, weil er Fehlanreize setzt. „Die Kassen halten einfach die Hand auf und sagen: Ich will Geld", kritisiert Eckhard Knappe von der Universität Trier. „Strukturausgleich bedeutet Bestandsschutz", bemängelt sein Kollege Peter Oberender von der Universität Bayreuth. Er befürchtet Dauersubventionen wie in der Stahlindustrie. „Es ist kein Selbstzweck, die AOK zu schützen."

Die ständigen Milliardentransfers lassen nun sogar die Solidarität der gesetzlichen Kassen untereinander bröckeln. Während Ersatz- und Betriebskrankenkassen schon länger gegen die Alimentierung der maroden Ostkassen wettern, rebellieren jetzt auch die ersten AOKs: Die bayerischen Ortskrankenkassen zum Beispiel wollen ihre notleidenden Berliner Bundesgenossen nicht länger durchschleppen. „Einmal muss Schluss sein , sagt Klaus Dittrich, der Vorsitzende des Verwaltungsrates.

Über 750 Mio. DM hat die größte deutsche AOK seit 1995 in den internen Ausgleichstopf der Ortskrankenkassen gezahlt. ln der gleichen Zeit musste der Bundesverband seiner moribunden Hauptstadt-Niederlassung 1,4 Mrd. DM in die Adern pumpen. Das ist zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Also bekommt der mit 690 Mio. DM verschuldete Patient für dieses Jahr eine weitere dreistellige Millionenspritze.

Den Bayern reicht's. Sie befürchten, dass sie wegen der Spree-Kasse ihre Tarife erhöhen müssen und dadurch im Wettbewerb zu Hause an Boden verlieren. Das weckt in Klaus Dittrich radikale Gedanken: „Ortskrankenkassen müssen nicht flächendeckend arbeiten. Eine Schließung darf kein tabu sein."

Mit 70 Kliniken leistet sich die Hauptstadt ein Überangebot an medizinischer Betreuung. Dagegen kann die AOK wenig fror. Viel zu zögerlich wehrt sich das Management jedoch dagegen, dass Berliner Patienten erheblich länger in der Klinik liegen als Westdeutsche. Das treibt die Behandlungskosten in die Höhe.

Der Fall Berlin zeigt, wie groß der Reformbedarf der gesetzlichen Kassen ist. Die Unternehmensberatung Arthur Andersen geht davon aus, dass sich die 'Träger in 15 Jahren in Leistung und Organisation nicht mehr voneinander unterscheiden werden. „Ersatzkassen wie die Techniker Krankenkasse haben frühzeitig angefangen, sich wie Unternehmen auszurichten", sagt Andersen-Berater Ulrich Wandschneider. Sie werben gezielt junge Leute und geben sich ein modernes Image.

Viele AOKs haben hingegen den Anschluss verpasst. Eine Ursache dafür sieht Wandschneider im Mangel an Knowhow: „Der Verwaltungsrat einer Ortskrankenkasse macht sich keine Vorstellung davon, was betriebswirtschaftlich möglich ist." Öffentlich-rechtliche Besoldungsvorschriften verhinderten zudem, dass die Kassen Spitzenmanager gewinnen können. Die Folgen sind fatal: „Kaum eine AOK hat wirtschaftliche Ziele definiert, die sie in einem bestimmten Zeitraum erreichen will", sagt Wandschneider.

Dass das System nicht allein schuld am chronischen Geldmangel der Kassen ist. zeigen die BKKs. Sie haben 1999 einen Überschuss von fast 1 Mrd. DM erwirtschaftet - obwohl sie mehr Rentner betreuen als etwa die Ersatzkassen. Die BKKs haben ihre Kosten gesenkt, indem sie Ärzte und Pharmazeuten beschäftigen, die Abrechnungen der Kliniken und Ärzte überprüfen. „Unsere Sachbearbeiter sind angewiesen, in Krankenhäusern nachzufragen, wenn Patienten kurz vor dem Wochenende eingewiesen worden sind", sagt Christine Richter vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen.

Mit so genannten Praxisnetzen haben die BKKs die Behandlungskosten um rund vier Prozent gesenkt: Dort sind Ärzte verschiedener Fachbereiche zusammengeschlossen. Der Hausarzt steuert die Behandlung seiner Patienten und weist sie kooperierenden Kollegen zu. 85 000 BKK-Versicherte werden bereits von solchen Netzen versorgt.

Die Ortskrankenkassen haben den Reformbedarf erkannt, reagieren aber nur behäbig. Ostdeutsche AOKs etwa geben 5,2 Prozent ihres Budgets für ihre Verwaltung aus; Betriebskrankenkassen kommen mit 4 Prozent aus. Während die meisten BKKs ihre Mitglieder einmal jährlich in einem Brief über Neuerungen informiert, finden Barmer-Kunden alle paar Tage bunte Infoblättchen in ihrem Postkasten.

Filialnetz statt Call Center

Während etwa die BKK für Heilberufe in Düsseldorf mit einer Zentrale auskommt, unterhält die AOK Rheinland mit 230 Außenstellen das dichteste Filialnetz in Nordrhein-Westfalen. An die Schließung von Geschäftsstellen und die Nutzung von Call Centern und Internet denken nur wenige. „Das ist für uns kein Thema", sagt Rolf Hoberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, „Musik aus dem Interner ersetzt ja auch nicht das Staatstheater."

Der Schlendrian mancher Kasse kostet die Versichertengemeinschaft Milliarden. „Die AOKs überprüfen viel zu wenig, ob Ärzte abgerechnete Leistungen auch wirklich erbracht haben", sagt der Dortmunder Ökonom Walter Krämer. „Kontrollen finden nicht statt, weil die Kasse nichts davon hat. „So flog der Millionenbetrug einer Herzklinik im niedersächsischen Bad Bevensen nur dadurch auf, dass ein gekündigter Arzt auspackte. Die AOK Niedersachsen hatte fehlerhafte Abrechnungen in 100 Fällen anstandslos beglichen.

Es gibt aber auch erste Erfolge bei den Ortskassen: So erwirtschaftet die AOK Sachsen vergangenes Jahr wieder einen Überschuss von 200 Mio. DM, obwohl sie Mitte der 90er fahre fast pleite war. Der AOK-Verwaltung kam die Landesregierung zu Hilfe, die mutiger als anderswo überzählige Kliniken geschlossen hat. Das macht sich nun deutlich bemerkbar: Die AOK Sachsen zahlt pro Mitglied und Jahr im Schnitt 1728 DM für Krankenhauskosten. Bei den anderen Ost-AOKs sind es 2094 DM, in Berlin sogar 2896 Mark.

Auch die AOK Baden-Württemberg hat erkannt, dass sie sich nicht allein aufs Wehklagen verlegen dürfen. "Wir wissen, dass wir unser Produkt verkaufen müssen, sagt Vorstand Hoberg. Mit Vortragsreihen, Expertenrunden und einer Vertriebskampagne konnte die Kasse im vergangenen Jahr 16 000 neue Mitglieder werben – obwohl sie den Beitrag um einen halben Prozentpunkt auf 13,5 Prozent erhöht hat.

Eine besonders clevere Marketing-Offensive hat die AOK Schleswig-Holstein gestartet: Provision gibt es nur für „gute Risiken". Eine Strategie, die sie von den missliebigen BKKs übernommen haben.

Veröffentlicht in: FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
Freitag, 28. April 2000