respectetur et altera pars...
Eine Anmerkung zum Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 8. 1. 1998 – 7 U 83/96 – br 1998 S. 53
In diesen Tagen sorgt das Urteil des OLG Köln für Aufsehen und Empörung: Die Rede ist vom Rechtsstreit zwischen dem Landschaftsverband Rheinland, der in einem Mischgebiet ein Wohnheim für Schwerstbehinderte betreibt, und einem dort wohnenden Nachbarn, der sich u. a. durch den seiner Ansicht nach unzumutbaren »Lärm« der Bewohner gestört fühlt. Die Öffentlichkeit reagierte empört auf das vermeintlich diskriminierende Urteil des Gerichts, das einen Kompromiß anstrebt zwischen dem durch Art. 3 Abs. 3 GG begründeten Anspruch Behinderter gegen Ausgrenzung und Benachteiligung einerseits und dem durch Art. 14 GG ebenfalls gesicherten Recht auf Eigentum andererseits. Rechtsprechung kann und wird nie jedwedes vermeintliche Unrecht aus dieser Welt schaffen, sondern ist bestenfalls der ehrenwerte Versuch der Wiederherstellung des Rechtsfriedens auf der Basis geltender Gesetze. »Salomonische« Rechtssprechung durch einen noch so gutmeinenden Richter ist nicht erstrebenswert, schon weil es da keine verbindliche Rechtsgrundlage gäbe.
Einige Punkte bereiten mir noch Bauchschmerzen: der Kläger spricht von »unerträglichem Lärm durch Schreie, Stöhnen, Kreischen und andere unartikulierte Laute«, die vom Nachbargrundstück ausgehen, und die er nach §§ 906 und 1004 BGB nicht hinnehmen muß, während der beklagte Betreiber des Heims dies in Abrede stellt. Das Gericht geht – zumindest in der mir vorliegenden mündlichen Urteilsbegründung – nicht auf Art, Dauer und Lautstärke des Lärms ein, genauer gesagt: auf dessen Lästigkeitswert. Bedauerlicherweise haben geistig Behinderte nun einmal nur unzureichende oder gar keine Kontrolle über ihre stimmlichen Äußerungen. Was der engagierte und abgehärtete Betreuer als durchaus akzeptabel, ja wünschenswert erachtet, mag für einen übersensiblen Dritten, hier einen Musiker, auf Dauer nahezu unerträglich sein.
Es ist zu hoffen, daß sich das Gericht durch unvoreingenommenen persönlichen Augenschein ein eigenes Bild von den örtlichen Gegebenheiten gemacht hat, wenngleich zu befürchten ist, daß dabei das Verhalten der Behinderten schon durch das plötzliche Auftreten so vieler unbekannter Menschen nicht unbeeinflußt blieb. Sollte das erwähnte Tonband aber das allein ausschlaggebende Beweismittel sein, so dürfte das Urteil auf tönernen Füßen stehen. Die Betreuer und angeblich unbefangene Dritte behaupten schließlich, die Belästigungen hätten – zumindest in der vom Kläger behaupteten Weise – nicht stattgefunden, was andererseits untypisch wäre für das übliche Verhalten geistig schwer Behinderter.
Was bisher über dieses Urteil in den Medien zu hören und zu lesen war, geht großenteils völlig am Tenor des Urteil vorbei; ja mir drängt sich der Verdacht auf, daß da in der Materie völlig überforderte Zeilenschinder versuchen, sich mit verlogenem Gesülze dem vermeintlich »gesunden Volksempfinden« anzubiedern. Wie sonst könnte man sich angesichts des im Wortlaut nachzulesenden Urteils zu Uberschriften versteigen wie: »Redeverbot für Behinderte« oder »Ein Fall für das Bundesverfassungsgericht?« Es geht doch nicht um die Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, sondern um die Einschränkung der Geräuschbelästigung auf ein zumutbares Maß.
Aber die Medaille hat auch eine Kehrseite, und die heißt »Wahrhaftigkeit«. Ich kann als Behinderter zwar x-beliebige Forderungen an die Gesellschaft stellen, werde mir aber spätestens dann eine blutige Nase holen und meine Glaubwürdigkeit verspielen, wenn ich das Augenmaß verliere. Auch für mich war das ein langer und schmerzlicher Lernprozeß, doch ich habe erkannt und verinnerlicht, daß wir Behinderten zwar legale und moralische Ansprüche haben, daß wir uns aber davor hüten müssen, uns als Mittelpunkt der Welt zu sehen. Der sprichwörtliche rollstuhlgerechte Ausbau der Eiger-Nordwand ist das eine Extrem, die zynische Verweigerung dringend erforderlicher Hilfsmittel das andere. Niemand sollte meinen, daß wir unsere Sache mit überzogenen Forderungen voranbringen; im Gegenteil! Wir würden die Glaubwürdigkeit und damit die Unterstützung der breiteren Öffentlichkeit verspielen, die keineswegs so behindertenfeindlich gesinnt ist, wie oft behauptet.
Die öffentliche Urteilsschelte im hier erörterten Rechtsstreit ist nach meiner Meinung jedenfalls überzogen, unbedacht und in höchstem Maße unfair.
Veröffentlicht in: | Behindertenrecht
Fachzeitschrift für Fragen der Rehabilitation Boorberg Verlag, 37. Jahrgang, Heft 3/1998, April 1998 |