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Irgendwas läuft da schief
Die Hilfsmittelversorgung wird ohne Augenmaß garottiert

Laut einer Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit wurden im Jahr 1998 von den Gesetzlichen Krankenkassen etwa 9,77 Milliarden Mark für Hilfsmittel ausgegeben. Das ist auf den ersten Blick zwar eine riesige Summe, doch sind das gerade einmal 4,17 % der gesamten Aufwendungen, oder ganze 140,- DM für jeden in der GKV Versicherten bzw. Mitversicherten. Das sind ca. DM 11,7o pro Monat, also nur ein winziger Bruchteil der üblichen Versicherungsbeiträge.

Behinderte, die haben ja ohnehin sooo viele Vergünstigungen

Während vielleicht macher klammheimlich nach der Einstufung als "Behinderter" schielt, um billiger mit dem Omnibus fahren zu können, so dürfte sich der Wunsch nach Hilfsmitteln bei denen, die sie nicht wirklich benötigen, doch sehr in Grenzen halten. (Komme jetzt niemand mit dem uralten Latrinen-Märchen, es gäbe da ein paar Perverse, die sich jedes Jahr neue Unterarm-Gehstützen verordnen ließen, um ihre Krückenkollektion zu vervollständigen). Nein, wer tätsächlich Hilfsmittel benötigt, ist in den allermeisten Fällen vom Leben genug gestraft, und kann auf dümmliche Spar-Ermahnungen gern verzichten.

Natürlich mag es hin und wieder Fälle geben, wo ein Behinderter meint, dieses und jenes Gerät würde auf einen Schlag seine Probleme lösen, ähnlich wie es den Aberglauben gibt, bei Genuss entsprechender Mengen Puh-Er-Tee könne man schlemmen, und dabei noch abnehmen. Aber Hilfsmittel kauft auch kaum jemand auf eigene Kosten beim Öko-Fritzen, sondern sie werden vom Fachmann verordnet, und dann vom Kostenträger genehmigt und bezahlt.

Wer ist wirklich kompetent in Sachen Hilfsmittel?

Das Wort "Fachmann" (bzw. Fachfrau, Pardon) lässt aufhorchen, denn wer ist wirklich sattelfest in diesem Bereich? Machen wir uns nichts vor: die praktischen Ärzte sind es in den aller wenigsten Fällen, denn deren Fachwissen liegt naturgemäß auf anderen Gebieten. Und selbst die Fachärzte etwa in den Kliniken für Querschnittgelähmte, MS-Kranke oder Schlaganfallpatienten sind meist nur am Rande mit der Auswahl und Anpassung von Hilfsmitteln befasst, denn dafür gibt es dort Spezialistlnnen, deren täglich Brot eben die kompetente Versorgung mit Hilfsmitteln ist.

Wo gibt es qualifizierte Beratung?

Bei der Erstversorgung nach Eintritt der Behinderung ist die Beratung in den Fachkliniken meist vorbildlich, aber wie sieht es aus, wenn die Versorgung vor Ort vom Hausarzt festgelegt wird? Kaum ein Praktiker an der vordersten Front des Heilwesens dürfte sich um diese Aufgabe reißen, die er weder im Pschyrembel nachsehen kann, und die er/sie auch bei der Ausbildung kaum je erlernt hat. Das Ergebnis ist dann nicht selten eine Verordnung auf Vordruck 16 mit der lapidaren Definition "1 x Rollstuhl". Was er/sie den Patienten damit antut, wird kaum Gegenstand großen Nachdenkens sein. Der Nächste bitte! Die Wirklichkeit in einer Praxis sieht eben ganz anders aus, als sie sich Hippokrates heute von seiner höheren Warte im Wolken-Kuckucksheim erträumt.

Die Verordnung ist aber erst die halbe Miete

Hier steht er nun, der arme Tor, mit der Verordnung in der Hand, und begibt sich in die Schlacht um eine seiner Behinderung wirklich angemessene Versorgung. Wenn er Glück hat, dann ist er zumindest in groben Zügen vorinformiert, welche Hilfsmittel u.U. für ihn infrage kommen. Und wenn er klug ist, hört er sich gezielt bei anderen Betroffenen mit vergleichbarer Behinderung um, um aus deren Erfahrungen und Fehlern zu lernen, vor allem aber, um sich ein Sanitätshaus auszugucken, das wirklich kompetent ist. Die Bandbreite dürfte da ähnlich sein, wie bei Autowerkstätten. Wo Menschen im Spiel sind, da menschelt's eben… Das ist nur ein schwacher Trost, wenn ihm/ihr ein Gerät empfohlen wird, bei dem für den Händler möglichst viel "hängen bleibt", das aber für die nächsten 5 bis 10 Jahre mehr ein "Behinderungs-" als ein "Hilfs"-mittel ist. Übertrieben? Na, dann fragen sie mal Alte Hasen! Jeder hat da schon mal Lehrgeld gezahlt.

Natürlich gibt es kompetente Berater im Fachhandel!

Aber mal angenommen, der Behinderte gerät an einen kompetenten Berater, der aus dem kaum noch überschaubaren Angebot des Marktes ein wirklich optimal geeignetes Gerät auswählt, etwa einen Aktiv-Rollstuhl mit geringem Gewicht, guten Fahreigenschaften und ausreichenden Verstellmöglichkeiten zur Anpassung an die individuellen Körpermaße. Und möglichst wartungsfrei soll das Gerät auch noch sein, damit nicht nach jedem Überfahren eines Bordsteines die Räder achtern wie in einem slapstick movie. Von "Schönheit" wollen wir gar nicht reden, denn Rollstühle sind nie "schön", allenfalls nicht ganz so grässlich hässlich; aber die Optik spielt für den Kostenträger verständlicherweise keine Rolle, denn der braucht sein Geld schon zum Bau neuer Glaspaläste und den Ausbau der Fahrzeugflotte für die Führungsriege.

Der "Anschlag" auf die Kriegskasse der Kostenträger

Also, angenommen, die Verordnung ist sauber formuliert, die Beratung durch das Sanitätshaus erfolgreich abgeschlossen; was kommt dann? Der unvermeindliche Kostenvoranschlag! Man könnte auch "Versorgungs-Angebot" sagen, aber "Kostenvoranschlag" klingt nun mal so schön amtsdeutsch, und "Anschlag" insinuiert zweifelsohne eine geplante Verschwörung gegen das Sparsamkeitsgebot, das meist Vorrang hat vor einer wirklich durchdachten und funktionsgerechten Versorgung.

Da muss es doch noch eine Hintertür geben

Was tut nun ein Sachbearbeiter im Regelfall? Er prüft, wo er den Kostenvoranschlag aushebeln kann. Gibt es da nicht noch einen ganz ähnlichen Rollstuhl aus Papua-Neuguinea, der schließlich auch vier Räder hat, aber nur die Hälfte kostet? Und zu was soll das Gerät auch noch verstellbar sein? Das ist doch nur unwirtschaftlicher und unangemessener Firlefanz. Aber ganz so einfach macht es sich selbst ein scharf dressierter Sachbearbeiter nur selten, denn zu was gibt es den Medizinischen Dienst? Hier finden sich schließlich die großen Hilfsmittelexperten, die zwar von Ergotherapie oder Orthopädietechnik in der Regel wenig bis überhaupt nichts verstehen, dafür aber als (meist) promovierte Mediziner über solche Petitessen erhaben sind.

Überlegenes "Fachwissen" ist nur Wunschdenken

Bezeichnend der nachweislich wahre Fall, wo eine blutjunge Ärztin des MDK einen beidseitig Beinamputierten allen Ernstes fragte, an welchem Bein er denn nun ober-, und an welchem Unterschenkel-amputiert sei. Der handgreifliche Rausschmiss aus der Wohnung des Betroffenen führte immerhin zur sofortigen und bedingungslosen Kapitulation des MDK bzw. des Kostenträgers, das heißt, man bewilligte das verordnete Hilfsmittel ohne weitere Rückzugsgefechte.

Schon der Name MDK ist eine Kriegserklärung an den Versicherten

Allein der Name dieses Vereins führt jeden Verdacht der Neutralität ad absurdum. Man nennt sich nicht etwa "Medizinische Gutachterstelle der Behinderten und der Kostenträger" sondern man nennt sich schamlos MDK "Medizinischer Dienst der Krankenkassen". Man hat auch nichts daraus gelernt, dass der Vorgängerverein, der "Vertrauensärztliche Dienst", eben jenes Vertrauen so nachhaltig verspielt hatte, dass selbst vor den kritischen Sozialgerichten kein Blumenpott mehr zu gewinnen war.

Neutralität; dass ich nicht lache!

Die Gretchenfrage dieser absurd einseitigen Konstruktion ist doch, wie eine "Neutralität" und "Unvoreingenommenheit" herzustellen wäre, wenn der Verein sich allein von einem der beiden Beteiligten alimentieren lässt. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Nichts gegen eine unvoreingenommene Schiedsinstanz zwischen den Parteien, aber die jetzige Konstruktion ist eine so unerträgliche Farce, dass selbst im reaktionären Freistaat Bayern die Regierungspartei darüber nachzudenken beginnt, wie man Remedur schaffen könnte.

Das Fachwissen der Reha-Spezialisten wird infrage gestellt

Das größte Ärgernis aber ist, dass von subalternen Erbsenzählern nicht etwa nur die angeblichen Gefälligkeitsverordnungen von Hausärzten kritisch geprüft werden, sondern sogar in der Sache wohl unanfechtbaren Verordnungen der Fachkliniken. Hier ist wie kaum sonst wo in der Welt das geballte ärztliche Fachwissen der Reha-Medizin versammelt, und wenn ein aufgrund seiner Forschungen zum Thema Dekubitusprofilaxe weltweit renommierter Chefarzt es für unverzichtbar hält, einen Hygiene-Rollstuhl mit einem paragerechten Polster auszustatten, dann frage ich mich, wo ein Laie aus dem Verwaltungsheer der Kostenträger oder selbst ein Halblaie des MDK die Chuzpe hernehmen, diese Verordnung zu zerpflücken.

Es muß gespart werden, egal was es kostet

Sparen ist in diesen harten Zeiten unvermeidlich, aber man kann alles übertreiben. Nehmen wir einmal einen Unfallverletzten mit einer Querschnittlähmung im Brustwirbelbereich. Allein die Kosten der Rehabilitation im Regelfall, d.h. ohne Komplikationen, liegen bei mindestens DM 1oo.ooo,-. Nicht mitgerechnet die Kosten für die unvermeidliche Anpassung des Lebensumfeldes nach der Entlassung und gar die Kosten für die Frühverrentung. Summa summarum dürfte jede Querschnittslähmung volkswirtschaftliche Gesamtkosten in Höhe von mindestens einer Million Mark verursachen, unabhängig davon, aus welchen Töpfen das Geld stammt. Im Grunde wird es immer von der Solidargemeinschaft aller Bürger bzw. der Versicherten kommen.

Das Engagement der Therapeuten wird mit Füßen getreten

Neben den nackten Zahlen darf auch das menschliche Engagement der Ärzte und ihrer Helfer nicht vernachlässigt werden. Ich selbst habe in traurig/guter Erinnerung, wie unabhängig vom Dienstplan Stationsärzte, Oberärzte und der Chefarzt persönlich mitten in der Nacht auftauchten, wenn es unvorhergesehene Komplikationen bei einem Neuzugang gab. Und wenn das Sorgenkind die Kurve doch noch gekratzt hat, und die Freisetzung in den harten Alltag unausweichlich war, wie soll sich ein engagierter Arzt, Ergotherapeut oder natürlich auch Schwester/Pfleger damit abfinden, dass der Schützling eben nicht mehr mit seiner Familie in den Urlaub fahren kann, weil es dem Sachbearbeiter des Kostenträgers wichtiger war, 300,- Mark zu sparen, statt dem Versicherten einen besser geeigneten Hygiene-Rollstuhl zu genehmigen, der zusammenfaltbar ist, und so zusätzlich zum unverzichtbaren Straßenrollstuhl auch in das meist bescheiden kleine Auto passt, das man sich von seiner Rente gerade noch leisten kann.

Das Ungleichgewicht sorgt für Verbitterung

Einerseits wird im Gesundheitswesen geklotzt, Diagnosegeräte für Beträge, mit denen man früher ganze Krankenhäuser baute, Herzoperationen im Gegenwert von Eigentumswohnungen, und auf der anderen Seite der Medaille eine Tendenz zu Hilfsmitteln, die ein Armutszeugnis für eine immer noch reiche Volkswirtschaft sind, die allein im GKV-Bereich fast 1/4 Billion (!) Mark pro Jahr aufwendet. Wenn am Ende bestenfalls 1 % oder 2 % dieser Summe eingespart werden, andererseits aber die ohnehin eingeschränkte Lebensqualität der Betroffenen durch minder geeignete Hilfsmittel zusätzlich reduziert wird, dann muss die Frage erlaubt sein, ob wir da nicht etwas falsch machen.

Diplomkaufmann Kurt R. B. Wanke, 62, ist seit 1985 durch einen Arbeitsunfall querschnittsgelähmt und beschäftigt sich seither gezielt mit der Verbesserung der Lebensumstände Behinderter. Er wurde durch das von ihm zusammen mit seinem Sohn Florian konzipierte artosy-Toilettensystem für Rollstuhlfahrer bekannt, für das er u.a. den Innovationspreis 1999 des Deutschen Erfinderverbandes e.V. erhielt. Außerdem entwickelte er die X'ELTA-Zargen für das Barrierefreie Bauen und diverse andere Hilfsmittel.

Kontaktadresse:

Dipl. Kfm. Kurt R. B. Wanke
Am Weinberg 31
97076 Würzburg
Telefon 0800 - 4 63 66 34
E-Mail: K.Wanke@mfh.de

Veröffentlicht in: muskel report
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V.
Heft 1/2000