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Hausarrest für Behinderte?
© Dipl.-Kfm. Kurt R. B. Wanke, Würzburg

Die Geschichte ist nicht frei erfunden, leider. Fast möchte man sie nicht glauben, gäbe es da nicht den Bescheid einer großen privaten Krankenkasse, die in ihrer Werbung unablässig beteuert, wie sehr sie um das Wohl ihrer Mitglieder bemüht ist… Offenbar aber nur, solange zwar brav die Beiträge gezahlt, jedoch ja keine Anträge auf Kostenübernahme für Hilfsmittel gestellt werden.

Was war geschehen? Ein Behinderter las in einer Fachzeitschrift, daß es seit einiger Zeit eine spezielle Reisetoilette für Rollstuhlfahrer gibt, die optimal auf seine Bedürfnisse zugeschnitten schien. Nach sorgfältigem Studium der angeforderten Unterlagen bat er seinen Arzt, ihm das Gerät zu verordnen. Als Querschnittsgelähmter kann er ohne einen para-gerecht gepolsterten Toilettenstuhl nicht verreisen, und die Mitnahme seines vorhandenen sperrigen Duschrollstuhls im Auto (zusätzlich zu seinem Straßenrollstuhl!) ist für ihn nicht durchführbar.

Zu seiner großen Verwunderung wurde die Verordnung mit der Begründung zurückgewiesen, die Kasse habe mit der früher erfolgten Bewilligung eines Dusch/Toilettenstuhls ihre Leistungspflicht (…) nach § 12 SGB V erfüllt. Schon diese Begründung steht auf tönernen Füßen, denn damals stand ja das jetzt beantragte Gerät noch nicht zur Wahl, da es weder dem verordnenden Arzt, noch der Kasse oder gar dem Behinderten selbst bekannt war. Das kann ja wohl nicht heißen, daß ihm jetzt in Zukunft ein wesentlich besser geeignetes Hilfsmittel vorenthalten bleibt, obwohl es der Kasse durchaus zumutbar wäre, das nur bedingt geeignete vorhandene Gerät in ihren Hilfsmittelpool aufzunehmen, und anderweitig wieder einzusetzen.

So weit, so schlecht. Im folgenden aber wird ohne Angabe des Aktenzeichens ein angebliches Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts bemüht, nach dem eine Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gegeben sei, wenn Hilfen notwendig werden, um die Folgen einer Behinderung auf beruflichem, sozialen oder privatem Gebiet auszugleichen.

Und weiter „Wenn zusätzliche Hilfen beantragt werden, um Reisen zu ermöglichen, so fallen diese in den privaten eigenverantwortlichen Bereich.“ Aus den vorstehend genannten Gründen sei eine Kostenübernahme nicht möglich. Keine Rechtsbehelfsbelehrung, keine Widerspruchsfrist, dafür mit freundlichem Gruß.

Man muß sich die Begründung einmal in ihrer ganzen Tragweite vor Augen führen: hier wird doch klipp und klar gesagt, daß die Kasse zwar im Prinzip für den Ausgleich der Folgen der Behinderung zuständig ist, aber eben nur, solange der Betroffene brav daheim bleibt, und weiterhin seinen 08/ 15-Klo-Chopper fährt. Für „Reisen“ sei die Kasse schließlich nicht zuständig. Es drängt sich die Frage auf, was die Kasse - oder besser: deren erbsenzählender Sachbearbeiter - unter „Reisen“ versteht. Es geht schließlich nicht nur um Urlaubsreisen, sondern auch um einen Wochenend-Besuch bei Verwandten oder Bekannten, die nicht unbedingt eine para-gerechte Toilette im Haus haben. Aber auch ein richtiger Erholungsurlaub steht einem Behinderten ja wohl ebenso zu, wie einem Nichtbehinderten; oder?

Wer nun einmal das „Glück“ hat, selbst querschnittsgelähmt im Rollstuhl zu sitzen, der weiß genau, auf welches Risiko er sich einläßt, wenn er z.B. ein WC mit ungepolsterter „Brille“ benutzt, und sich dabei binnen einer Viertelstunde ein Druckgeschwür im Sitzbereich zuzieht. Dessen Versorgung in einer Spezialklinik kostet zwar gut und gern DM 600 pro Tag und dauert mindestens vier Wochen, Kosten, für die jede Kasse klaglos aufkommt; Hauptsache bei der Hilfsmittelbewilligung wurde „wirtschaftlich“ entschieden.

Behinderte sind bekanntlich geduldig, und mit den meisten von ihnen kann man so umspringen. (Oder man versucht es zumindest). Im konkreten Fall wußte sich der Betroffene zu wehren, legte Widerspruch ein und kündigte juristische Schritte gegen den Ablehnungsbescheid und dessen hanebüchene Begründung an. Sollte es zu einer Klage vor einem ordentlichen Gericht kommen, wird das vielbeachtete Urteil eben des erwähnten Bundessozialgerichts vom 8. 6. 1994 (Az: 3/1 RK 13/93)1 sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Mit diesem Urteil hatte das BSG einem Behinderten recht gegeben, der seine Krankenkasse auf übernahme der Kosten für einen Rollstuhlboy (eine Art Fahrrad-Rikscha) verklagt hatte, da er nur mit Hilfe eines solchen Gerätes zusammen mit seiner Begleitperson kurze Ausflüge in die Umgebung machen könne.

Ganz ähnlich dürfte der eingangs beschriebene Fall zu entscheiden sein, denn nur mit Hilfe eines speziellen Reise-Toilettenstuhls ist es dem Antragsteller möglich, ohne unzumutbare Schwierigkeiten sein engeres Wohnumfeld über Nacht zu verlassen. Verweigert man ihm dieses zudem recht preiswerte Hilfsmittel, so kommt das letztlich einem Hausarrest gleich. Daß andere Behinderte in der Vergangenheit auch ohne ein derartiges Gerät verreisen konnten, ändert im Prinzip nichts an dieser Feststellung, denn es gibt bei genauer Betrachtung kaum zwei wirklich gleichgelagerte Fälle der Behinderung.

Solange es aber im Ermessen eines subalternen Sachbearbeiters einer ansonsten durchaus großzügigen und verantwortungsbewußten Kasse liegt, berechtigte Ansprüche der Versicherten derart gedankenlos abzubügeln, so lange sind wir noch weit entfernt von Geist und Buchstaben des Grundgesetzes, das bekanntlich die Benachteiligung und Ausgrenzung Behinderter ausdrücklich verbietet.

1 Das Urteil ist vollständig abgedruckt in der Sammlung von Entscheidungen aus dem Sozialrecht „Breithaupt“ 1995 (Heft 4) S. 315 ff.

Veröffentlicht in: Behindertenrecht
Fachzeitschrift für Fragen der Rehabilitation
Boorberg Verlag, 34. Jahrgang, Heft 5/1995, August 1995