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»Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’« … oder:
Der Medizinische Dienst im Zwiespalt der Interessen
Ketzerische Anmerkungen zu einem leidigen Thema
Kurt R. B. Wanke

Versicherungen sind im Grunde nichts anderes als Wetten mit umgekehrten Vorzeichen. Wenn ich am Totalisator auf ein Pferd setze oder im Fußballtoto auf den Sieg bestimmter Mannschaften, dann wette ich mein Geld darauf, daß das von mir erhoffte Ergebnis eintritt, und ich daran verdiene. Eine Krankenversicherung schließe ich ab in der Hoffnung, daß das befürchtete Ereignis eben nicht eintritt und, wenn doch, ich gegen dessen finanzielle Folgen abgesichert bin. Es handelt sich also um einen zivilrechtlichen Vertrag, dessen beiderseitige Pflichten und Rechte genau festgelegt sind; theoretisch zumindest.

Ende vergangenen Jahrhunderts wurde die Mitgliedschaft in einer solchen Versicherung für jeden Erwerbstätigen Pflicht, wobei auch die Angehörigen mit abgesichert wurden. Grundgedanke war es damals, den Staat von der sozialen Fürsorgepflicht für den hilfebedürftigen einzelnen zu entbinden und die Kosten der Solidargemeinschaft allen Versicherten aufzubürden; ein Vorgehen, das sich im Prinzip bewährt hat. Wie so vieles sind aber sowohl die gesetzlichen wie auch die privaten Krankenkassen durch die Kostenentwicklung der letzten Jahre erheblich unter Druck geraten.

Zum einen sind die Versicherten selbstbewußter und anspruchsvoller geworden, zweitens haben sich die Aufwendungen auch für konventionelle ärztliche und therapeutische Maßnahmen kontinuierlich erhöht, drittens kamen durch den Fortschritt der Medizin äußerst kostenintensive Behandlungsmethoden hinzu, viertens wurde die Alterspyramide der Versicherten von Jahr zu Jahr kopflastiger, d.h. es stieg der Anteil jener Versicherten überproportional an, die bei durchschnittlichen Beitragsleistungen einen um so höheren Leistungsbedarf haben, und fünftens stieg die Zahl der beitragsfreien Arbeitslosen auf über vier Millionen.

Patentlösungen für diesen Gordischen Knoten sind nicht in Sicht; allenfalls kann die Rückbesinnung auf den Grundgedanken einer streng kaufmännisch kalkulierten Risikoversicherung weiterhelfen. Das Ergebnis wäre aber mit Sicherheit, daß die Beitragssätze für bestimmte Risiko- gruppen erheblich steigen würden bzw. der Staat über sein soziales Netz viele Problemfälle auffangen müßte, was er angesichts seiner leeren Kassen kaum zu leisten imstande ist.

Der Weg des geringsten Widerstands

Wie häufig in ähnlich gelagerten Fällen sucht man nach dem Königsweg des geringsten Widerstandes, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Man langt also nicht denen in die Tasche, die am meisten abzugeben haben, sondern jenen, die sich am wenigsten wehren können. Bisher ist am Ende jeder Versuch gescheitert, der Pharmaindustrie an den Beutel zu gehen. Sofort wurde das Gespenst des Verlustes unzähliger Arbeitsplätze an die Wand gemalt, während gleichzeitig in allen Zeitungen Berichte über Rekordgewinne dieser Abzockerbranche zu lesen sind. Ein Tor, wer glaubt, dieses Spielchen sei ohne verkappte »Herrenausstatter« in Bonn oder Brüssel denkbar.

Auch die Krankenhäuser verstehen es meisterlich, durch gezielten Druck auf die Tränendrüse ihren satten Status quo zu verteidigen. Wer versucht, diesen Froschteich genau auszuloten, wird vom ohrenbetäubenden Gequake seiner Bewohner entnervt aufgeben, angefangen vom Verwaltungsleiter über die kommunalen Träger bis hin zu den Chefärzten, die schon bei drohenden Jahreseinkünften unter 1 Mio. netto den roten Beelzebub an das leider noch immer Schwarze Brett malen.

Aber einer muß ja die Zeche zahlen und sei es nur als Prügelknabe dieses Schlammringens. Ich spreche nicht von den »nur« Kranken, denn denen fehlt es (noch) an nichts. Ein Herzschrittmacher für einen Achtzigjährigen? Klaro! Eine Austauschleber für einen siebzigjährigen Alkoholiker? Warum nicht, ist ja medizinisch begründbar! Fünf Lungenoperationen für einen krebskranken Kettenraucher? Einen Riegel vorschieben? Fragen Sie mal den Theo, wieviel die arme Zigarettenindustrie jährlich an Tabaksteuer löhnt!

Auch am Kurwesen ist nicht allzuviel einzusparen, weil die Reduzierung dieses Dienstleistungssektors sich unter dem Strich kaum rechnet. Arbeitslose haben wir schließlich eh schon mehr als genug! Aber wer dann, wenn nicht die Pharmaindustrie, Ärzte, Kliniken, Sanatorien und sonstige Beinah-Hungerleider? Zum Glück gibt es ja noch das vermeintlich unerschöpfliche Füllhorn der am härtesten Betroffenen, die womöglich noch so dreist sind, etwa Gehkrücken oder gar einen Rollstuhl zu beanspruchen! Auch wenn von etwa 235 Milliarden DM Kassenleistungen im Jahr 1995 nur 18,1 Milliarden, also nicht einmal 8 %, für Hilfsmittel aufgewendet wurden, läßt es sich hier gut sparen, denn da ist kaum mit organisiertem Widerstand, etwa gar einer zahlungskräftigen Lobby in Bonn bzw. künftig Berlin zu rechnen. Diese lammbrave Klientel leidet und schweigt. Noch.

Nun werden Hilfsmittel ja nicht aus Daffke verordnet und beantragt. Der Normalfall sieht doch eher so aus, daß der Patient seinen Arzt erst einmal dazu überreden muß, ihm ein angepaßtes Hilfsmittel überhaupt zu verordnen. Wieviel bequemer ist es doch, gegen Sitzbeschwerden im Rollstuhl ein paar Zäpfchen zu verordnen, statt eines besser geeigneten Sitzkissens. (Originalton eines niedergelassenen Arztes: Wenn das von so ausschlaggebender Bedeutung wäre, dann wüßte ich das ja wohl …)

Wechsel des Arztes oft der einzige Ausweg

Bleibt dem Behinderten nur Beharrlichkeit oder – besser noch – ein Wechsel des Arztes. Das ist kein Plädoyer für Gefälligkeitsverordnungen, aber wenn ein Arzt noch immer nicht weiß, daß Hilfsmittel nicht zu Lasten seines Verordnungsbudgets gehen, dann ist die Zeit gekommen für einen Wechsel. Nur sind selbst engagierte (Haus-)Ärzte oft überfordert, wenn es um die Auswahl optimal geeigneter Hilfsmittel geht. Auch ist es leider noch immer die große Ausnahme, wenn ein Arzt sich in Zweifelsfällen an den Therapeuten seines Patienten wendet, obwohl der mit den tatsächlichen Erfordernissen des Einzelfalles und den in Frage kommenden Hilfsmitteln zwangsläufig besser vertraut ist als der Arzt selbst.

Das Defizit an Information und Engagement führt andererseits auch leicht auf den Holzweg. Da werden aus Gefälligkeit teure Hilfsmittel verordnet, von denen sich der Behinderte zwar die Lösung seiner Probleme verspricht, die über kurz oder lang aber unbenutzt im Keller verstauben. Wie läßt sich so etwas verhindern?

Man schaltet einfach den Medizinischen Dienst ein. Früher nannte der sich »Vertrauensarzt«, aber nachdem selbst bei Wohlgesinnten das Wort »Vertrauen« eines Tages nur mehr ein müdes Lächeln hervorrief, wechselte man flugs den Namen. In diesem Moment laufe ich Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten bzw. blindlings den Stab über den Medizinischen Dienst zu brechen; das wäre ungerecht! Ich selbst bin querschnittgelähmt, habe aber in zwölf Jahren keine negativen Erfahrungen mit dem hiesigen Medizinischen Dienst gemacht.

Andererseits: vor meinem Unfall war ich als Außendienstler gut 1 Million km mit dem Auto unterwegs, ohne jemals einen Geisterfahrer gesehen zu haben. Trotz- dem ist es für mich noch immer ein Alptraum, plötzlich einem dieser schwarzen Schafe zu begegnen. Ähnlich ist es wohl auch beim Medizinischen Dienst, dessen Mitarbeiter/innen zum Gluck in den meisten Fällen akzeptable Entscheidungen treffen. Aber: genausowenig das nur sehr seltene Auftreten von Geisterfahrern die Verharmlosung der Gefahren rechtfertigt, ist das Walten schwarzer Schafe beim Medizinischen Dienst einfach achselzuckend hinzunehmen.

Fehlentscheidungen können zu menschlichen Tragödien führen

Schließlich handelt es sich in jedem Einzelfall falscher Entscheidungen um ein menschliches Schicksal mit oft weitreichenden Folgen. Ohne hier alle historischen und heutigen gesetzgeberischen Grundlagen für die Tätigkeit des Medizinischen Dienstes aufzählen und hinter- fragen zu wollen, scheint mir dessen Entscheidungsbefugnis letztlich doch auf tönernen Füßen zu stehen. Vor allem interessiert mich die zentrale Frage nach der Qualifikation der Gutachter. Fehlt nicht viel, und man verlangt von einer Altenpflegerin noch ein abgeschlossenes Hochschulstudium; und die verlangte Dokumentation der Qualitätssicherung hat schon den Charakter gezielter Schikane und Erbsenzählerei.

Doch wer prüft die Prüfer? Welche Qualifikation bringen sie mit, und wie wird die ermittelt, dokumentiert und weiterverfolgt? Ein kurz nach Abschluß seiner Ausbildung eingestellter Gutachter des Medizinischen Dienstes ist doch letztlich ein Greenhorn, das ohne Zweifel das medizinische Grundwissen mitbringt. Was ihm/ihr aber zwangsläufig fehlt, ist die ärztliche Erfahrung, der durch kein Studium ersetzbare Umgang mit kranken bzw. gebrechlichen Patienten und ihren ganz konkreten Bedürfnissen. Was ist etwa von einer promovierten blutjungen Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes zu halten, die den zu begutachtenden Patienten als erstes fragte, an welchem Bein er denn nun unterschenkel- und an welchem oberschenkelamputiert sei? (Der Fall ist belegbar dokumentiert!)

Gut gemeint, aber nicht realitätsbezogen

Vom Gesetzgeber zweifelsohne mit bester Absicht als neutrale Schiedsstelle zwischen den Interessen der Kassen und den Versicherten installiert, hat sich der Medizinische Dienst mittlerweile blindlings und widerspruchslos ins Schlepptau der ohnehin stärkeren Partei begeben, nämlich der Kostenträger. In § 275 SGB V heißt es unter (3):

Die Krankenkassen können in geeigneten Fällen durch den Medizinischen Dienst prüfen lassen … 2. vor Bewilligung eines Hilfsmittels, ob das Hilfsmittel erforderlich ist (§33); der Medizinische Dienst hat hierbei den Versicherten zu beraten; er hat mit den Orthopädischen Versorgungsstellen zusammenzuarbeiten.1

Und weiter unter (5):

Die Ärzte des Medizinischen Dienstes sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen. Sie sind nicht berechtigt, in die ärztliche Behandlung einzugreifen.1 Da wird sich der alte Hippokrates aber freuen! Es klingt zu schön, um wahr zu sein; der Medizinische Dienst berät den Versicherten. Die Praxis sieht leider meist anders aus, und es dürfte die große Ausnahme sein, wenn sich Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes wirklich so genau auf dem ständig im Umbruch befindlichen Hilfsmittelmarkt auskennen, um qualifiziert beraten zu können. Meist ist es doch so, daß der Behinderte zusammen mit seinem Arzt, seinem Therapeuten und einem Fachmann des ihn betreuenden Sanitätshauses ein für seine Behinderung geeignetes Gerät ausgewählt hat, um schließlich einen Kostenvoranschlag zur Genehmigung einzureichen. Und dann kommt wie Kai aus der Kiste der große Überflieger des Medizinischen Dienstes daher, und berät …

Am Ende dieser »Beratung« steht dann nicht selten die Ablehnung des beantragten Gerätes, weil der Gutachter des Medizinischen Dienstes es besser weiß oder zu wissen glaubt. Ohne viel Federlesens wird die begründete ärztliche Verordnung vom Tisch gelegt und abgelehnt. Wie ist das mit der Vorgabe vereinbar, daß der Medizinische Dienst nicht in die ärztliche Behandlung eingreift? Ist die Verordnung von Hilfsmitteln etwa nicht Bestandteil der Behandlung? Und falls nicht, wo findet sich hierfür eine eindeutige Begründung im Gesetzestext?

Unabhängig davon, daß ein auf Dauer unzumutbar hoher Anteil der Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes die fachliche Qualifikation und das Augenmaß vermissen läßt, erweist sich der Medizinische Dienst nur allzuoft als parteiisch. Nach dem Motto: wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’. Obwohl ich selbst, wie gesagt, keinerlei negative Erfahrungen mit dem Medizinischen Dienst gemacht habe, erhalte ich täglich Kenntnis von geradezu haarsträubenden Begutachtungen.2 So wird z.B. häufig die beantragte Kostenübernahme für eine Reisetoilette für Rollstuhlfahrer mit der zynischen Begründung abgelehnt, der Behinderte sei daheim ausreichend versorgt und verreisen sei sein Privatvergnügen, für das die Kasse nicht aufkommen müsse. Das muß man sich erst einmal in letzter Konsequenz vor Augen führen!

Ein in der Stadt lebender Querschnittgelähmter will über das Wochenende zu seiner auf dem Lande wohnenden Familie oder zu Freunden fahren, wo kein paragerecht gepolstertes und mit dem Roll- stuhl erreichbares WC verfügbar ist. Muß er dann auf den Besuch verzichten? Was ist mit dem neugefaßten Artikel 3 GG, der die Ausgrenzung Behinderter ausdrücklich verbietet? Was bleibt vom Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit? Hausarrest für Behinderte?

Da wird um Bagatellbeträge gefeilscht, während mit der anderen Hand die Millionen nur so zum Fenster rausgeworfen werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich einige in der Sache überforderte Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes genüßlich zum Herrn über das Schicksal der von ihnen zu betreuenden Behinderten aufmandeln und sich unter Mißachtung der gebotenen Unvoreingenommenheit zum willfährigen Vollstrecker der Kasseninteressen machen.

Nun höre ich schon den Einwand, so einflußreich sei der Medizinische Dienst schon deshalb nicht, weil in den Leitungsgremien der Krankenkassen gemäß §§ 39 und 43 SGB V auch Interessenvertreter der Versicherten sitzen, die ein Wörtchen mitzureden hätten. Vergessen wir nicht, daß diese »Versicherungsältesten« allenfalls eine Alibifunktion haben und überhaupt nicht in das Tagesgeschehen eingebunden sind, folglich in der Regel von fragwürdigen Entscheidungen des Medizinischen Dienstes nicht einmal Kenntnis erlangen.

Wann gibt es endlich verbindliche und nachprüfbare Eignungskriterien?

Es muß endlich Schluß gemacht werden mit der selbstherrlichen Unterstellung, daß es so etwas wie eine Qualifikation kraft Amtes geben kann. Früher sagte man: »wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er den Verstand ...«. Aber ganz offensichtlich kommen heute die Ämter immer weniger von Gott. Hier schließt sich der Kreis meiner Überlegungen. Die Interessenlage zwischen Leistungserbringern und Anspruchsberechtigten umfaßt eine Grauzone, die nur durch neutrale Sachverständige mit untadeliger Qualifikation aufgehellt werden kann. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Medizinische Dienst die Interessen beider Seiten wahrnimmt, vorausgesetzt der gebotene Sachverstand und die vertrauensbildende Neutralität sind gewährleistet. Es wird seinem Ruf aber über kurz oder lang irreparablen Schaden zufügen, wenn notorische Geisterfahrer in seinen Reihen nicht konsequent zur Ordnung gerufen, nachgeschult oder notfalls sogar freigestellt werden.

1 Heraushebung des Textes (Kursivschrift) durch den Verfasser

2 Der querschnittgelähmte Verfasser befaßt sich seit seinem Arbeitsunfall im Jahre 1985 intensiv mit dem Lebensumfeld Behinderter und Betagter. Der breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt durch artosy, das zusammen mit seinem Sohn Florian entwickelte all round toiletten system und seine DELTA-Zargen für das barrierefreie Bauen.

Anschrift des Verfassers:
Dipl.-Kfm Kurt R. B. Wanke, Am Weinberg 31, 97076 Würzburg

Veröffentlicht in: Physikalische Therapie
Heft 18 8/97