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Unsere (fast noch) heile Welt
One-way-ticket-to-the-moon für Dr. Allwissend vom MDK

Gut, dass wir nicht in Japan leben, denn dort versteckt man aus falsch verstandener Scham jeden körperlichen Defekt, wie man als Nicht-Landeskundiger hier immer wieder hört. Eine rollstuhlfahrende Spielgefährtin der weltberühmten Barbie-Puppe? Dort angeblich überhaupt nicht denkbar.

In Europa ist man da toleranter und wohl auch menschlicher, denn behinderte Kinder werden weitest gehend akzeptiert; zumindest, wenn sie nicht allzu weit von der "Norm" abweichen. Ein Kind mit angeborener Querschnittlähmung (Spina bifida = "offener Rücken") stellt kaum ein Ärgernis dar und schwerer behinderte Kinder im Grunde auch nur dann, wenn sie aus falsch interpretierter Toleranzforderung ihre nicht behinderten Mitmenschen deutlich stärker belästigen, als es bei gegenseitiger(!) Rücksichtnahme unumgänglich wäre. Zurück zum Thema: Behinderung muss man InduLa zum Glück nicht verstecken und auch die Solidargemeinschaft der Versicherten war und ist bereit, Betroffenen zu helfen, ihr Schicksal, so weit wie eben möglich, zu meistern und die Nachteile ihrer Behinderung auszugleichen. Da steckt nicht nur die in unserem Kulturkreis tief verwurzelte Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe dahinter, sondern auch die Erkenntnis, dass es einen morgen selbst treffen könnte, ganz zu schweigen von den eigenen Angehörigen, speziell den Kindern. Dass es in unseren gesellschaftlichen Randgruppen zunehmend kackbraunes Gedankengut gibt, das Behinderten (bzw. dem "lebensunwerten Leben" = den Krüppeln) die Daseinsberechtigung absprechen möchte; ist hinreichend bekannt und liefert gewissen Sonntagsrednern willkommenen Stoff für staatstragende Absonderungen der Abscheu + Empörung. Viel bedenklicher finde ich aber, dass diese Haltung unterschwellig längst fruchtbaren Boden gefunden hat in den Vorstandsetagen unserer Versicherungen und vor allem beim unsäglichen MDK, dem Medizynischen Dienst der Krankenkassen.

Der Gesetzgeber hat in der Nachkriegszeit im Fortschreibungsverfahren z.B. den Rechtsanspruch Behinderter auf Versorgung mit Hilfsmitteln festgelegt, ohne dabei auch noch die Zahl der monatlich benötigten Slip-Einlagen vorzugeben. Mit diesem Freiraum sind alle Beteiligten bis etwa Anfang der 90er Jahre sehr kompetent und verantwortungsvoll umgegangen, bis sich der Wind zu drehen begann. Wurde vorher das genehmigt, was der Fachtherapeut für erforderlich hielt und mit Augenmaß verordnete, so "mandelten" sich plötzlich Besserwisser bei den Kostenträgern auf, die ohne jede medizinische Qualifikation Verordnungen abschmetterten; weil sie ihnen "unwirtschaftlich" erschienen.

Ein dokumentiertes Extrembeispiel: eine renommierte Fachklinik für Querschnittgelähmte im süddeutschen Raum verordnete für einen Entlasspatienten u. a. einen Satz von sechs Lagerungskissen im Wert von etwa DM 300,-, um die Gefahr des nächtlichen Wundliegens zu vermindern. Die Verordnung wurde von einem Sachbearbeiter der Kasse abgewiesen, da für diese Kissen keine therapeutische Notwendigkeit bestünde. (Anmerkung: die stationäre Behebung eines durch unsachgemäße Lagerung hervorgerufenen Dekubitus kostet nachweislich im Durchschnitt DM 30.000,- und mehr; jede Fachklinik hat ständig einen oder mehrere solcher Patienten).

Da die "Fachkompetenz" der Kassen-Sachbearbeiter zunehmend in Frage gestellt wird, schuf man das Instrument des "Medizynischen Dienstes". Nicht etwa "der Krankenkassen und der Versicherten", sondern bezeichnenderweise "der Krankenkassen". Jegliche wohlmeinende Vermutung der Neutralität ist damit vom Tisch; es handelt sich beim MDK einzig und allein um das hart abgerichtete Beißgeschwader der Kasseninteressen. Diese Einschätzung wurde mir bezeichnenderweise mehrfach von frustrierten Mitarbeitern eben des MDK bestätigt, die sich wegen ihres erzwungenen Verstoßes gegen den Hippokratischen Eid schämen, die aber auf Grund wirtschaftlicher Zwänge bis zum Ruhestand mit der Meute kläffen müssen. Nur sehr selten besinnt sich ein Gutachter des MDK seiner vorn Gesetzgeber eigentlich gewollten, aber nie überprüften und eingeforderten Neutralitätspflicht und löckt wider den Stachel.

Zum Thema Sparen: lt. Statistischem Bundesamt betreffen gerade einmal 4,17 % sämtlicher Ausgaben der Kassen den Bereich "Hilfsmittel" im weitesten Sinn. Selbst bei rigoroser Streichung noch so berechtigter gesetzlich festgeklopfter Versorgungsansprüche der Versicherten ist da kein Sparpotential zu vermuten, das die allgegenwärtige Misswirtschaft des Gesundheitswesens und der Kassen aufzuwiegen in der Lage wäre. Man denke nur an die Missstände bei der unnötig langen Verweildauer in deutschen Krankenhäusern im internationalen Vergleich, die Praxis gesundheitsschädlicher und sinnloser Mehrfachuntersuchungen, das ungebremste Ausufern der Kosten für Arzneimittel und nicht zuletzt den überzogenen Bürokratismus in den Verwaltungen der Kostenträger.

Wenn man wirklich sparen will, so gibt es zweifelsohne Felder, die Erfolg versprechender sind, als die "peanuts", die bei Hilfsmitteln abzuknapsen wären. Man sollte sich davor hüten, allen Katzen vorsorglich erst mal das fünfte Bein abzuschneiden, noch bevor man genau gezählt hat. Vor allem sollte man bei allen Sparmaßnahmen den möglichen Nutzen und den zu erwartenden Nachteil gegenüberstellen, ehe man zweifelhafte Waffen wie den MDK gegen die in aller Regel wehrlosen Behinderten einsetzt. Eine Ungleichheit der "Waffen", wie sie heute die Regel ist, hat der Gesetzgeber gewiss so nicht gewollt und die Flut der Klagen gegen die Kostenträger wegen Leistungsverweigerung vor den Sozialgerichten zeigt, dass da etwas im Argen liegt.

Der Schwerpunkt des Ärgernisses MDK liegt heute zweifelsohne im Bereich der Einstufung der Pflegestufe, ein Feld, auf dem ich zu einem abschließenden Urteil nicht genügend sachkundig bin. Anders dagegen beim Thema Hilfsmittelversorgung, das mir als Entwickler diverser richtungweisender Produkte für Rollstuhlfahrer bestens vertraut ist. Die eklatante fachliche Unfähigkeit der meisten Gutachter des MDK ist kaum noch zu überbieten, sind sie doch schon im rein medizinischen Bereich überfordert! (Ein dokumentiertes Beispiel medizinischer Inkompetenz: eine junge, in Nürnberg gutachterlich tätige Ärztin des MDK fragte einen beidseitig beinamputierten Diabetiker, an welchem Bein er denn nun oberschenkel- und an welchem er unterschenkelamputiert sei; der darauf folgende Rauswurf erfolgte unter Anwendung körperlicher Tätlichkeit…)

Umwerfend auch die Begründung der Ablehnung einer fachärztlich verordneten fahrbaren Mobiltoilette. Obwohl derartige Geräte gemäß der "Einzelproduktbeschreibung" der PG 18 im Hilfsmittelverzeichnis ausdrücklich faltbar/zerlegbar sein müssen, verweigerte der Gutachter des MDK seine Zustimmung mit der umwerfenden Begründung, daheim sei der Antragsteller ja ausreichend versorgt und "Verreisen" sei sein Privatvergnügen. Zählt dazu etwa auch die Teilnahe an üblichen Aktivitäten einer intakten Familie, wie etwa Verwandtenbesuche oder ein Ausflug mit der Kirchengemeinde oder dem Sportverein?

Wer redet denn von Expeditionen in ferne Länder? Nein, es geht darum, die eigenen vier Wände mal über Nacht verlassen zu können, ohne möglicherweise am nächsten Tag wortwörtlich in der Schiete zu sitzen…

Möge doch der Dr. Allwissend des MDK einmal vormachen, wie etwa ein Querschnittgelähmter eine behinderten"gerechte" ungepolsterte Toilette an der Autobahn benutzen soll, ohne sich einen behandlungsbedürftigen Dekubitus zuzuziehen! Als Nächstes droht wohl noch der Entzug des üblichen Straßenrollstuhls, denn im Bett ist der Behinderte zweifelsohne bestens und umfassend "versorgt". Das eingespahrte Geld kann man dann ja zur Aufstockung der Versicherungspaläste benutzen, zur Erhöhung der Vorstandsbezüge, zur Erweiterung des Fuhrparks und – wenn es nach mir geht – um den gesamten MDK auf den Mond zu schießen: One-way-ticket-to-the-moon and thanks anyway!

Text: Dipl. Kfm. Kurt R. B. Wanke

Der Leserbrief von Herrn Dipl. Kfm. Kurt R. B. Wanke erscheint anstelle seines Artikels "Wes Brot ich ess"… (Anmerkung der Redaktion)

Veröffentlicht in: BARRIERE
Unabhängige Zeitschrift für körperbehinderte Menschen
Herausgeber: mdm Verlag, D-40764 Langenfeld
Heft 2/01