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Psycho-Soziale Rehabilitation…
Einmal aus der Sicht eines Betroffenen gesehen
Kurt R. B. Wanke

Sicherlich wäre es falsch oder zumindest übertrieben zu behaupten, die Aspekte der Rehabilitation Rückenmarksverletzter hätten sich in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlich geändert. Ich bin zwar selbst kein Mediziner, beobachte jedoch die Entwicklung sowohl aus beruflichem Interesse wie auch als selbst Betroffener sehr genau. Seit Januar 1985 gehöre ich nach Wirbelfrakturen (C6/C7+ LWK 1, alle inkomplett) unfreiwillig zur Zunft der Rollstuhlfahrer und stelle die mir verbliebenen Fähigkeiten als freiberuflicher Journalist und Entwickler von Hilfsmitteln in den Dienst meiner Leidensgefährten.

Die Chancen für eine weitgehende Minderung der Folgen einer Schädigung des Rückenmarks, sei es durch Erkrankungen oder Unfälle, sind so gut wie nie zuvor. Die Diagnostik hat sich kontinuierlich verbessert, und das Netz der Rettungsdienste, speziell durch den Einsatz von Hubschraubern, ist so dicht wie nie zuvor. Bekanntlich entscheidet die erste Stunde nach einem Trauma über das Ausmaß bzw. die Reversibilität der Schädigung, und da können wir in Deutschland wirklich nicht klagen.

Wie aber sieht es mit der Rehabilitation in der Klinik aus? Die Verweildauer der Rehabilitanden muß aufgrund des Sparzwanges immer weiter reduziert werden, denn schließlich kostet jeder Tag in einer speziell ausgerüsteten Erstversorgungsklinik wie etwa Bayreuth, Murnau, Langensteinbach oder Hamburg viele Blaue, und nur der Einführung des Euro ist es zu verdanken, daß der Betrag nicht bald vierstellig wird.

In den ersten Wochen nach dem Eintritt einer Rückenmarksschädigung – meist ja durch Unfälle – stehen rein medizinische Aspekte im Vordergrund, und der Betroffene ist in den ersten Wochen nur bedingt zugänglich für die psycho-sozialen Aspekte der Rehabilitation. Wenn erst einmal das Ausmaß der Folgen begriffen wird, steht die Trauerarbeit im Vordergrund. Wird sie verdrängt, so zeigen sich die Folgen in der Regel später um so heftiger. Niemand steckt den Verlust der Gehfähigkeit, verbunden mit solchen »Kleinigkeiten« wie dem Verlust der aktiven Zeugungsfähigkeit etc., einfach so weg. Wer das bestreitet, der belügt sich selbst.

Je kürzer nun der Aufenthalt in der Erst-Reha ist, desto kürzer auch die verfügbare Zeit zum Arrangement mit dem eigenen Schicksal, wobei die interaktive Kommunikation mit Leidensgenossen nicht unterschätzt werden darf. Viel zu kurz auch die Mithilfe durch speziell ausgebildete Psychologen, ein Manko, das mir schon damals in den vermeintlich noch goldenen 80er Jahren sauer aufstieß. Wieviel Zeit bleibt dem Rehabilitanden heutzutage überhaupt noch zur Rückgewinnung seiner seelischen Balance?

Unter psycho-sozialer Rehabilitation verstehe ich aber auch die Wiedereingliederung des nunmehr Behinderten in das tägliche Leben. Noch ist in den Köpfen mancher Ergotherapeuten das Ziel nicht auszurotten, dem »Krüppel« wenigstens das Korbflechten oder das Teppichweben beizubringen. Während ich ersteres durch geschickte Krankmeldung erfolgreich zu umgehen wußte, erlangte ich im Weben eine gewisse Fertigkeit und kann noch heute bei selbst weitläufigsten Verwandten und Bekannten meine Kunstwerke bewundern. Hoch leben die Motten!

Damals, 1985, waren Computer noch nicht einmal andeutungsweise Gegenstand ergotherapeutischer Überlegungen, weshalb ich mir erst einige Jahre nach dem Rausschmiß aus der Klinik den Umgang mit diesem Teufelswerk selbst beibrachte. Immerhin reicht’s aus, nach dem Adler-System (einkreisen & niederstoßen …) mit dem rechten Zeigefinger und dem linken Daumen einige Gedanken auf’s Papier zu bannen. (Es lebe die Funktionshand!) Selber denken und schreiben ist – wer hätte das gedacht – noch befriedigender als Teppichweben.

Wenn ich als Laie von psycho-sozialer Rehabilitation rede, dann denke ich aber nicht nur an die oben angerissenen psychologischen Aspekte, sondern auch daran, wie draußen der stinknormale Alltag nach der unweigerlich drohenden Stunde Null, der Entlassung, bewältigt wird. In zahllosen öden Symposien wurden die Rechte der armen Behinderten »erarbeitet« und beschworen, auf teurem Hochglanzpapier gedruckt und dafür reichlich öffentliche Mittel abgegriffen. Das gleiche Ritual wiederholt sich jetzt unter EU-Patenschaft. Was aber hat sich an der Situation der Betroffenen geändert?

Früher gab es bekanntlich den Hilfsmittel-Katalog, in dem einigermaßen nachvollziehbar aufgelistet war, was z. B. einem Querschnittgelähmten an Hilfsmitteln für die Erstversorgung bei der Entlassung mitzugeben war. Heute gibt es das unsägliche Hilfsmittel-Verzeichnis, das es jedem subalternen Sachbearbeiter ohne jegliche medizinische Vorkenntnis oder dem meist ebenso überforderten Gutachter des Medizynischen Dienstes freistellt, was er gnädigerweise zu genehmigen bereit ist.

Ich selbst habe den Chefarzt einer der führenden Querschnittkliniken in Deutschland toben gesehen wie das HB-Männchen, als er die Begründung las, mit der eine Wechseldruckmatratze für einen hochgradig deku-gefährdeten Querschnittgelähmten abgeschmettert wurde. So setzt sich allmählich auch bei den Kostenträgern und deren unsäglichen Erfüllungsgehilfen des Medizynischen Dienstes der Unverstand gegenüber höchstqualifizierter Fachkenntnis auf dem Gebiet der Rehabilitation durch.

Wie schon erwähnt, bin ich selbst federführend an der Entwicklung von Behindertenhilfsmitteln beteiligt, was u. a. auch zur Ehrung durch einen Deutschen Erfinderpreis führte. Mein Spezialgebiet sind Hygienehilfsmittel, speziell Mobiltoiletten auch für unterwegs. Gedankensprung: jeder weiß, daß Straßenrollstühle gem. HMV 18 faltbar sein müssen, um die Mitnahme außerhalb der eigenen vier Wände zu ermöglichen. Es dürfte unbestritten sein, daß den Behinderten bei der Abwesenheit von daheim durchaus auch einmal ein menschliches Bedürfnis überkommen kann. Was dann?

Die Mitnahme eines üblichen Hygienerollstuhls mit starrem Gestell zusätzlich zu einem Straßenrollstuhl ist in einem PKW aber technisch kaum möglich. Was dann? Soll sich der Behinderte seinen Stuhlgang durch die Rippen schwitzen? Oder irgendwie bei seinem Kostenträger einreichen? Pardon. Warum müssen nicht auch Hygienerollstühle generell faltbar sein, um die Mitnahme zu erleichtern? Gedankenlosigkeit? Fachliche Überforderung?

Genau an diesem Punkt habe ich mit meinem Sohn Florian angesetzt und in mehrjähriger Entwicklungs- und Weiterentwicklungsarbeit einen Hygienerollstuhl konzipiert, der sich mit wenigen Handgriffen auf Koffergröße falten und somit bequem und unauffällig mitführen läßt, wenn man verreist. Zwar ist das Gerät längst im HMV gelistet, doch immer noch gibt es Sachbearbeiter der Kostenträger und »Fachleute« des Medizynischen Dienstes, die die Meinung vertreten, daheim sei der Behinderte ja versorgt, und Abwesenheit von daheim sei sein Privatvergnügen.

Von Art. 3 Abs. 3 unseres Grundgesetzes haben diese Erbsenzähler offenbar noch nichts gehört. Ich wünsche denen auch nichts ernsthaft Böses, schon gar keine Querschnittlähmung. Es würde schon ein manifester Koprolith im Dickdarm genügen, und dann ein kostendämpfendes Löffelchen Rizinusöl zur Besserung …

Der querschnittgelähmte Würzburger Diplomkaufmann Kurt R. B. Wanke, 61, befaßt sich seit seinem Arbeitsunfall im Jahre 1985 intensiv mit dem Lebensumfeld Behinderter und Betagter. Der breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt durch artosy, das zusammen mit seinem Sohn Florian entwickelte all round toiletten system und seine X’ELTA-Zargen für das barrierefreie Bauen. Er ist auf diesen Gebieten auch journalistisch tätig. Telefon und Fax: (0931) 27 45-50

Veröffentlicht in: Neurologie & Rehabilitation
Hippocampus Verlag
Heft 4/99, September 1999