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Die Reisetoilette - eine Pflichtleistung für Rollstuhlfahrer?
© Dr. Ulrich Kannengießer, Speyer

Rollstuhlfahrer, die verreisen oder nur einen Wochenendbesuch machen möchten, können sich diesen Wunsch meistens nicht erfüllen. Es fehlt oft an den Hilfen, auf die sie zur Bewältigung ihrer speziellen Probleme angewiesen sind. Eines davon, und zwar ein ganz wichtiges, weil täglich auftretendes, ist das Benutzen einer geeigneten Toilette. Entweder ist im Bedarfsfall eine geeignete Lokalität nicht in Sicht, oder am Zielort gibt es zwar eine Toilette, die sich mit einem Rollstuhl aber nicht erreichen läßt.

Abhilfe bietet in diesem Falle eine Reisetoilette, die der Rollstuhlfahrer mitführen kann.

Für betroffene Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung stellt sich die Frage, ob ihnen ein Anspruch auf eine solche Reisetoilette als Hilfsmittel im Sinne des § 33 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch - (SGB V) zusteht. Eine Judikatur hierzu besteht (noch) nicht. Die Krankenkassen als Leistungsträger verfahren unterschiedlich: Neben (fern-)mündlich erklärten Ablehnungen ergehen Ablehnungs- und vorbehaltlose Bewilligungsbescheide; daneben wird aus Kulanzgründen auch geleistet, jedoch unter ausdrücklicher Nichtanerkennung einer rechtlichen Verpflichtung.

Die aufgeworfene Rechtsfrage bedarf daher einer näheren Prüfung. Diese führt zu dem Ergebnis, daß die Krankenkassen auf Antrag (§ 19 SGB IV) verpflichtet sind, den versicherten Rollstuhlfahrer mit einer Reisetoilette auszustatten. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte im Rahmen der Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind.

Eine Reisetoilette ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Darunter fallen die Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet, d. h. üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt werden1. Gesunde benutzen üblicherweise fest montierte Toiletten und ersparen sich den Arbeitsaufwand, der im Aufstellen und Abbauen der Reisetoilette sowie dem Entfernen des Kunststoffbeutels besteht. Für Gesunde kommt damit die Reisetoilette nicht in Betracht, auch wenn sie sich auf Reisen befinden. Daß die Reisetoilette ihrer Funktion nach einer 'normalen' Toilette vergleichbar ist, die auch von Gesunden benutzt werden könnte, ist rechtlich unerheblich.

Die Reisetoilette ist ein geeignetes Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Sie ist ein Mittel, welches Ersatz- oder Ergänzungsfunktionen wahrnimmt.

Für den häuslichen Bereich genügt dem Rollstuhlfahrer seine angepaßte Haustoilette. Für den außerhäuslichen Bereich ist er aufgrund seiner mangelnden Gehfähigkeit unverzichtbar auf die Reisetoilette angewiesen. Der Zweck, den eine außerhäusliche Toilette einem Gesunden gegenüber erfüllt, wird bei einem Rollstuhlfahrer ersatzweise durch die Reisetoilette erreicht.

Diese ist auch erforderlich im Sinne der Anspruchsgrundlage. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung2 erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören nicht nur die Ernährung oder die elementare Körperpflege, der neben Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren die Darm- oder Blasenentleerung zuzurechnen ist3, sondern auch die Schaffung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben umfaßt4.

Dieser vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelte Rechtsgedanke findet seine Bestätigung in anderen Sozialleistungsbereichen. So werden Heil- und Krankenbehandlung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) u. a. deshalb gewährt, um die Beschädigten und die Hinterbliebenen möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern (§ 10 Abs. 1, Abs. 4 BVG). In der Kriegsopferfürsorge wird im Rahmen der Altenhilfe für Beschädigte und Hinterbliebene Hilfe geleistet zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen die der Geselligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kulturellen Bedürfnissen dienen (§ 26 e Abs. 2 Nr. 4 BVG); als Hilfen in besonderen Lebenslagen kommen in Betracht Hilfen zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, insbesondere am öffentlichen und kulturellen Geschehen (§ 28 KFürsV). Die Heil- und Krankenbehandlung umfaßt auch die Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 11 Abs. 1, 12 Abs. 1 BVG).

Der Freiraum des Rollstuhlfahrers war früher vor allem wegen der unverzichtbaren Erreichbarkeit 'seiner' Toilette auf die unmittelbare Hausumgebung beschränkt. Damit konnte sein Grundbedürfnis, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, nicht oder nur ungenügend befriedigt werden. Demgegenüber verschafft der Besitz und die Verwendung einer Reisetoilette dem Rollstuhlfahrer die Möglichkeit, sich für einige Stunden oder für einige Tage außerhalb des häuslichen Bereichs aufzuhalten. Zu denken ist an eine ehrenamtliche Betätigung, an Verwandten- oder Wochenendbesuche, an die Wahrnehmung von Versammlungen, Seminaren oder sonstigen Veranstaltungen, an Kurztrips oder Urlaubsreisen.

Diese Lebensbetätigungen bewegen sich im Rahmen eines allgemeinen Grundbedürfnisses. Ohne Reisetoilette lassen sie sich schwerlich verwirklichen. Die Unmöglichkeit oder Ungewißheit, an einem außerhäuslichen Ort sich eines auftretenden Bedürfnisses entledigen zu können, bringt die jeweiligen Besuchsvorhaben und damit die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben oft von vornherein zum Scheitern. Der Rollstuhlfahrer ist daher auf die Reisetoilette unverzichtbar angewiesen.

Die Krankenkassen begründen ihre ablehnende Haltung meist mit der Auffassung, der Einsatz der Reisetoilette stelle lediglich eine notwendige Hilfe dar, um die Folgen einer Behinderung auf privatem Gebiet auszugleichen, und daß die Reisemöglichkeit somit in den privaten, eigenverantwortlichen Bereich falle. Diese Absicht ist unzutreffend.

Soweit ein Hilfsmittel nur besonderen, insbesondere dem gesellschaftlichen, beruflichen oder privaten Lebensbereich allein zuzurechnenden Tätigkeiten dient, sind die Krankenkassen zwar nicht leistungsverpflichtet, weil es an dem Begriff der Erforderlichkeit im Sinne des § 33 SGB V fehlt.

Die Sachlage ist vorliegend jedoch entgegengesetzt zu beurteilen. Der Aufenthalt des Rollstuhlfahrers im außerhäuslichen Bereich erschließt ihm ja erst die Gelegenheit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und in privater Hinsicht ein normales Leben zu führen. In diesem Sinne gehören zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz in vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben. Zu ersteren zählen beispielhaft der Besuch von nahestehenden Personen in Anstalten, Heimen oder aus anderen besonderen Anlässen5.

Der von der BSG-Rechtsprechung zugebilligte Freiraum ist untrennbar mit dem Umstand verbunden, daß der Rollstuhlfahrer für die Dauer der häuslichen Abwesenheit auch mit einer geeigneten Toilette zu versorgen ist.

Das Verrichten der Notdurft ist zweifellos zu den allgemeinen Grundbedürfnissen zu rechnen, es tritt indes im Zusammenhang mit der außerhäuslichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in den Hintergrund. Nicht die außerhäusliche körperliche Entsorgung an sich, sondern die Wahrnehmung des körperlichen oder geistigen Freiraums durch den Rollstuhlfahrer bildet den eigentlichen Rechtsgrund dafür, ihm eine Reisetoilette zur Verfügung zu stellen.

Andererseits darf nicht übersehen werden, daß das Verrichten der Notdurft im Vergleich zu den anderen elementaren Grundbedürfnissen sozialrechtlich einen gesonderten, privilegierten Tatbestand darstellt: Obwohl diese Betätigung und diejenigen des Essens, Trinkens und Schlafens gleichermaßen dem rein persönlichen Lebensbereich des Versicherten angehören, sind in der gesetzlichen Unfallversicherung Unfälle, die im Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit beim Essen, Trinken oder bei einer Hotelübernachtung eintreten, in der Regel nicht entschädigungspflichtig6, während für das Verrichten der Notdurft auf der Arbeitsstätte - auch auf dem Wege nach oder von der Arbeitsstätte - die Rechtsprechung von jeher Versicherungsschutz angenommen hat7.

Die Unentbehrlichkeit der Reisetoilette ist nicht dadurch eingeschränkt, daß in zunehmender Zahl öffentliche Gebäude entsprechend DIN 18 024 mit sogenannten barrierefreien WCs ausgestattet werden. Sofern diese überhaupt (noch) funktionsfähig sind, bietet deren Anzahl und räumliche Verteilung keine Gewähr, daß sie beim Auftreten eines Bedürfnisses in zumutbarer Zeit erreichbar sind.

Im privaten Bereich, etwa beim Besuch von Bekannten oder Verwandten, sind derartige WCs dort ohnehin nur in den seltensten Fallen anzutreffen.

Der Behinderte, soweit er auf die Benutzung einer für seine Bedürfnisse adaptierten Toilette angewiesen ist, hat einen Rechtsanspruch auf die individuelle Ausgestaltung seines Jahresurlaubes8, er darf also nicht auf den Verbleib im Umkreis seiner Wohnung verwiesen werden. Gerade in südlichen Ländern, die heute als Reiseziele für jedermann üblich sind, fehlt es häufig an Toiletten, die ein Hinsetzen überhaupt ermöglichen, sondern statt dessen dem Benutzer eine Hockstellung abverlangen, wozu der Rollstuhlfahrer schon gar nicht in der Lage ist.

Einen Sonderfall stellen WCs dar, die von Querschnittsgelähmten benutzt werden sollen. Hierzu sind auch die WCs nach DIN 18 024 in der Regel ungeeignet, da deren Sitz nicht paragerecht weich gepolstert ist. Benutzt der Querschnittsgelähmte eine Toilette mit ungepolstertem Sitz, läuft er Gefahr, sich schon nach kurzem Verweilen eine Druckstelle mit nachfolgendem Dekubitalgeschwür zuzuziehen.

Für diese Personengruppe stellt sich eine geeignete Reisetoilette sogar als noch dringlicher dar.

In die Leistungspflicht der Krankenversicherung fallen nach dem Grundsatz des § 12 SGB V, der auch für die Versorgung mit Hilfsmitteln gilt, nur solche Hilfsmittel, deren Verwendung wirtschaftlich ist.

Diese Voraussetzung erfüllt die Reisetoilette. Derartige Mobiltoiletten sind erst seit kurzem auf dem Markt; der Kaufpreis beträgt weniger als 1500 DM; sie sind nicht reparaturanfällig. Im Hinblick auf die nur stunden- oder tagelange Verwendungsdauer wäre ein daraus abgeleiteter Einwand des Krankenversicherungsträgers rechtsmißbräuchlich; denn er kann keinen Vorteil daraus ziehen, daß die außerhäuslichen Gegebenheiten i. d. R. eine Toilettenbenutzung durch den Rollstuhlfahrer nicht zulassen und zum Besitz einer Reisetoilette praktisch keine Alternative besteht. Erst dieses Hilfsrnittel gleicht das durch die Gehunfähigkeit bedingte Unvermögen aus, sich an einem fremden, geeigneten Ort seines Bedürfnisses zu entledigen. Durch seine Nutzung wird es dem Rollstuhlfahrer überhaupt erst ermöglicht, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen. Dieses Grundbedürfnis ist bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung in wesentlichem Maße zu berücksichtigen.

Die Krankenkasse verwirklicht dieses Gebot auch dadurch, daß sie die Reisetoilette dem Versicherten nicht im Wege der Übereignung, sondern der Dauerleihe überläßt (§ 33 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Wenn die Krankenkassen vereinzelt den Anspruch auf die beantragte Reisetoilette verneinen oder deren Kostenübernahme ablehnen, so ist dies insbesondere dann rechtlich bedenklich, wenn dieses Gerät im Hilfsmittelverzeichnis, das nach § 128 SGB V die Spitzenverbände der Krankenkassen gemeinsam erstellen, aufgeführt ist; dieses Verzeichnis enthält die von der Leistungspflicht umfaßten Hilfsmittel.

Die Notwendigkeit der Reisetoilette ist nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Rollstuhlfahrer auf die Mithilfe einer dritten Person, etwa des Ehepartners, verwiesen wird.

Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung läßt sich keine generelle vorrangige Selbsthilfe bzw. Hilfe von Angehörrigen gegenüber Versicherungsansprüchen begründen, es sei denn, Ansprüche werden im Rahmen der häuslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe (§§ 37, 38 SGB V) geltend gemacht und Familienangehörige stehen zu Hilfeleistungen zur Verfügung.

Indes ist nicht erkennbar, inwieweit der Rollstuhlfahrer bei der Erledigung seines drängenden Problems außerhalb seines Wohnbereichs Hilfe von anderen erhalten kann.

Nach allem steht dem Rollstuhlfahrer ein Anspruch auf Versorgung mit einer Reisetoilette gegen seine Krankenkasse zu.

In weitgehender Anlehnung an das Krankenversicherungsrecht kommt ein solcher Rechtsanspruch auch nach dem Leistungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) in Betracht. Die Heilbehandlung umfaßt ausdrücklich die Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 27 Abs. 1 Nr. 4 SGB VII). Hilfsmittel sind nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB VII alle ärztlich verordneten Sachen, die die Folgen von Gesundheitsschäden mildern oder ausgleichen. Die Unfallversicherungsträger haben zu prüfen, welche Leistungen geeignet und zumutbar sind, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden oder zu mindern (§ 26 Abs. 5 Satz 2 SGB VII). Die Reisetoilette erfüllt alle diese Merkmale.

Anmerkungen:

1 BSG SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 5 = Breith. 1994, 55 1
2 BSG SozR a.a.0.
3 Vgl. § 26 c Abs. 5 Nr. 1 BVG
4 BSG SozR 3 - 2500 § 33 Nr. 1 = Breith. 1990, 711; LSG Rheinland-Pfalz, Breith. 1995, 832
5 Sozialhilferichtlinien Rheinland-Pfalz, SHR-Anm. zu § 12 BSHG
6 BSG SozR Nr. 40 und 41 zu § 542 RV0; Nr. 26 zu § 543 RV0; Nr. 10 zu § 542 RVO
7 BSG SozR Nr. 45 zu § 543 RVO a. F.
8 Schwerbehinderte haben im Rahmen des Schwerbehindertengesetzes Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von 5 Arbeitstagen un Urlaubsjahr (§ 47 SchwbG).

Veröffentlicht in: Behindertenrecht
Fachzeitschrift für Fragen der Rehabilitation
Boorberg Verlag, 36. Jahrgang, Heft 5/1997, August 1997